„Jemand muss sich dringend um das Image des Alters kümmern“

Wege aus der Einsamkeit/Janina Steinmetz

Einsamkeit bei älteren Menschen ist leider nicht erst seit Corona ein drängendes Thema, es wurde dadurch lediglich stärker in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Doch zum Glück gibt es Menschen wie Dagmar Hirche (64), Mitbegründerin des Vereins Wege aus der Einsamkeit, der sich für die Verbesserung der Lebensumstände alter Menschen einsetzt, und ihnen auch das Internet näher bringen will

Dagmar Hirche vom Verein Wege aus der Einsamkeit (links)

Mit dem Projekt Wir versilbern das Netz hatte der Verein Wege aus der Einsamkeit sofort großen Erfolg: „Als wir vor acht Jahren mit unseren Gesprächsrunden angefangen haben, dachten wir zunächst, das sei eine kleinere Sache, aber wir sind förmlich überrannt worden,” erzählt Dagmar Hirche (links). „Seither gibt es keine Runde, die nicht ausgebucht ist!”

HEYDAY: Liebe Dagmar, wie kam es 2007 zur Idee und schließlich zur Gründung des Vereins Wege aus der Einsamkeit?

Dagmar Hirche: Ich bin Geschäftsführerin einer Unternehmensgruppe, und vor nunmehr 14 Jahren saßen mein Chef und ich zusammen und sprachen darüber, dass wir uns gerne ehrenamtlich betätigen würden. Zunächst haben wir gemeinsam überlegt in welchem Bereich wir das tun möchten und sind schließlich thematisch auf den demographischen Wandel gestoßen, was damals gesellschaftlich noch kaum ein Thema war. Wir haben dann eine professionelle Bedarfsanalyse erstellen lassen, dabei ist uns aufgefallen, dass sich mal dringend jemand um das Image des Alters kümmern müsste – ein Verein, der mal andere Dinge auf die Spur bringt, jenseits von Sitztanzgruppen, Gedächtnistraining, etc.. Ich meine das jetzt gar nicht böse, diese Dinge sind auch ganz wichtig. Aber dennoch fehlte einfach ein Angebot, von dem sich alte Menschen angesprochen fühlen, die etwas moderner unterwegs sind.

Wie kannst du deinen Berufsalltag als Geschäftsführerin mit der sicherlich umfangreichen Arbeit für den Verein vereinbaren?

Mein Chef und Mitgründer des Vereins Wege aus der Einsamkeit hatte mir zu Beginn angeboten ich könne zehn Prozent meiner Arbeitszeit in den Verein investieren, bei Auszahlung meines vollen Gehalts. Ich glaube, er ahnte damals nicht im Geringsten, was sich daraus entwickeln würde (lacht). Inzwischen ist es so, dass ich zwar immer noch als Geschäftsführerin angestellt, aber hauptsächlich für den Verein tätig bin. Das bedeutet, mein Chef unterstützt den Verein zwar nicht direkt finanziell, aber dafür mit der Arbeitskraft seiner Geschäftsführerin.

Wieviele Stunden investierst du letztlich in den Verein?

Die kannst du gar nicht zählen (lacht). Manchmal sind es 40 Stunden Verein und 20 Unternehmen, manchmal sind es auch 60 Stunden für den Verein und 10 für die Firma.

Das klingt nach viel Arbeit.

Ja schon, ich muss allerdings sagen, dass die Arbeit für den Verein unheimlich Spaß macht. Ich habe mit vielen verschiedenen Menschen zu tun, mit Menschen, die das, was wir machen sehr zu schätzen wissen. Da bekommt man so viel Energie zurück, dass ich das oft gar nicht als Belastung ansehe. Es macht einfach wahnsinnig viel Freude. Dennoch müssten wir eigentlich noch weitere Mitarbeiter beschäftigen.

Wie viele Mitarbeiter habt ihr derzeit?

Wir sind acht Mitglieder. Uns war von Anfang an klar, der Verein braucht ein Gesicht, und das bin eben ich. Meine grauen Haare, ein Jungspund bin auch nicht mehr und reden konnte ich schon immer – das passte also. Mein Vorstandskollege übernimmt im Hintergrund administrative Aufgaben. Ansonsten sind insgesamt acht Mitglieder im Verein, davon sind zwei relativ hochaltrig, die können kaum noch etwas aktiv beitragen.

Was genau ist Wege aus der Einsamkeit? Was können alte Menschen von eurem Verein erwarten?

Anfangs haben wir uns auf analoge Veranstaltungen, wie Kino- oder Zoobesuche  beschränkt. Vor acht Jahren kam bei mir allerdings folgende Frage auf, da ich beruflich ständig mit der Thematik konfrontiert war: Wer schult eigentlich alte Leute im Umgang mit den neuen Medien? Wer zeigt ihnen, wie man mit Smartphone und Tablet umgeht, wie sie sich in der digitalen Welt zurecht finden? Es gab zwar Senioren-Computerclubs, aber es wurden eigentlich nirgends Tablet- und Smartphonekurse angeboten. Also haben wir entschieden, dass unser Verein das übernehmen muss.

Ich habe mich dann erstmal mit sechs Damen um die 80, die wir von früheren Veranstaltungen kannten, bei Kaffee und Kuchen zusammengesetzt und sie befragt, wie ein solches Angebot gestaltet sein müsste, damit sie Lust hätten daran teilzunehmen. Daraufhin haben wir unser Konzept Wir versilbern das Netz entwickelt. Das sind kostenfreie Gesprächsrunden in modernem Ambiente, wo die alten Menschen den Umgang mit mobilen Endgeräten lernen. Wir wollten damit weg vom traditionellen, etwas altmodischen Seniorentreff und möchten gleichzeitig das Image des Alters etwas aufmöbeln.

Dagmar Hirche vom Verein Wege aus der Einsamkeit (links)

Gemeinsam mit Dagmar Hirche und ihren Mitstreiter:innen erobern neugierige Senioren das Internet: Kostenfreie Gesprächsrunden in modernem Ambiente, bei denen ältere Menschen ganz entspannt den Umgang mit mobilen Endgeräten wie Smartphones und Tablets lernen, gibt es bereits in Hamburg und Berlin, weitere Städte sind angedacht.

Wege aus der Einsamkeit
Dagmar Hirche vom Verein Wege aus der Einsamkeit
Foto: Stefan Maria Rother

Gibt es viele Senioren, die das Internet nutzen wollen, sich aber nicht recht rantrauen? Und wenn ja, was hält sie davon ab?

Das größte Problem ist, dass sie erst mal niemanden haben, der es ihnen erklärt. Oft denken die Senioren zudem, sie seien die einzigen, die das nicht können, also hat es auch was mit Scham zu tun. Viele erkennen auch schlicht nicht, was die digitale Welt für Vorteile mit sich bringt. Ein weiteres großes Hindernis ist Altersarmut. Viele können sich das gar nicht leisten. Wobei meist nicht das Gerät das Problem ist, das bekommt man günstig gebraucht, oft auch geschenkt, vielmehr ist es der Wlan-Anschluss. Denn was nutzt mir ein Endgerät, wenn ich mir den Anschluss nicht leisten kann? Mein Wunsch, bzw. meine Forderung, wäre deshalb, jede Wohnung, jeden Raum in dem Menschen leben, mit einer Wlan-Grundausstattung zu versehen. Das muss nichts besonderes sein, einfach eine Basis, damit jede:r ins Netz kann.

Wie wurden eure Gesprächsrunden mit dem Motto Wir versilbern das Netz anfangs aufgenommen?

Als wir vor acht Jahren mit unserem Versilberungs-Projekt angefangen haben, dachten wir zunächst, das sei eine kleinere Sache, aber wir sind förmlich überrannt worden. Seit acht Jahren gibt es keine Runde, die nicht ausgebucht ist. Wir sind ja kein Kurs im herkömmlichen Sinne, wir wollen den Leuten mit Spaß beibringen die mobilen Endgeräte zu erobern.

Nur mal als Beispiel: In Berlin habe ich das Glück, ganz große Räume zur Verfügung zu haben. Eigentlich waren unsere Versilberungs-Runden dort auf acht bis maximal zehn Teilnehmer ausgelegt, aber plötzlich saßen da 14 Leute. Die Woche drauf waren es schon 25, das hat sich völlig verselbstständigt. Letztendlich kamen zwischen 60 und 70 Senioren zu unseren Runden. Dabei auch immer mehr Leute, die zwar nicht einsam sind, aber den Umgang mit Smartphone oder Tablet lernen möchten.

Die Versilberungs-Runden gibt es bislang nur in deiner Heimatstadt Hamburg und in Berlin?

Ja, genau. In München wollten wir gerade anfangen. Da gab es Studenten die das übernehmen wollten und wir hatten auch schon Räume zur Verfügung – dann kam Corona dazwischen.

Es ist also geplant, die Versilberungs-Runden auch auf andere Städte auszuweiten?

Ja, sofern wir Räumlichkeiten und Ehrenamtler finden. Wir sind außerdem mit einem großen Provider im Gespräch, der Versilberungs-Runden mit unserer Hilfe in seinen Shops aufbauen möchte

Finden diese Runden ausschließlich analog statt, bzw. wie läuft das mit Corona ab?

Vor der Pandemie war das ausschließlich analog. Als Corona kam, war die Überlegung: Was machen wir jetzt? Die alten Menschen wurden im Zuge der Pandemie ja völlig in die Isolation geschickt. Wir mussten also eine Möglichkeit finden, wie wir die Senioren dennoch erreichen können. Ich habe mir schließlich alle möglichen Plattformen angeschaut und für mich festgestellt, dass Zoom für unsere Zwecke am besten funktionieren würde. Dann habe ich mit meinem Mann zusammen Zoom-Erklärvideos gedreht. Die habe ich an unsere 2000 Newsletterabonennten verschickt, mit einer Einladung zu unserer ersten Zoom-Veranstaltung – und alle wollten mitmachen (lacht). Inzwischen haben wir die 400. Zoom-Veranstaltung mit insgesamt knapp 10.000 Gästen absolviert. Wir haben Teilnehmer von überall her. Da machen inzwischen Menschen aus ganz Deutschland mit.

So können wir weiterhin unsere Versilberungs-Runden anbieten, zudem noch Sitztanz, Sitzyoga, Spielrunden, einen Ukulele-Workshop und eine Schreibwerkstatt.

Wir haben außerdem sehr früh erkannt, dass wir die sozialen Netzwerke nutzen müssen. Daher sind wir schon ganz früh auf Facebook gegangen, haben einen Twitteraccount und sind auf Instagram. Zusätzlich habe ich einen regen LinkedIn-Account mit dem ich es letztes Jahr unter die Top 50 Voices geschafft habe.

Wie erreicht ihr die Menschen, wie macht ihr euren Verein sichtbar für Leute, die noch keinen Internetzugang haben?

In den ersten Jahren, als wir noch gar nicht digital unterwegs waren, hatten wir das große Glück, dass oft im Fernsehen, in Zeitungen und Wochenblättern über uns berichtet wurde. Letztere sind für uns die Kommunikationsplattform schlechthin. Viele ältere Herrschaften werden auch von ihren Kindern und Enkelkindern zu uns geschickt.

Warum glaubst du sind so viele alte Menschen überhaupt einsam, was sind üblicherweise die Gründe dafür?

Die Einsamkeit kommt oft schleichend. Da spielen Geldnot, Krankheit und natürlich Tod eine Rolle. Das gewohnte Umfeld verstirbt mit der Zeit und so wird man immer einsamer, ohne es zu merken. Wie soll dann ein:e 83-Jährige:r, dessen Umfeld verstorben oder im Heim ist, plötzlich neue Bekanntschaften machen? Viele Menschen sind natürlich auch durch Corona in die Einsamkeit gerutscht, weil sie plötzlich nicht mehr zum Sport, in den Chor oder auf Reisen gehen konnten.

Einsamkeit ist oftmals durch Armut bedingt. Wie könnt ihr in solchen Fällen helfen?

Naja, alles was wir anbieten ist grundsätzlich kostenfrei. Bei manchen Veranstaltungen, wie beispielsweise unserem Neujahrsempfang, zahlen wir den Kuchen und das erste Getränk. Genauso machen wir das auch bei unseren Flashmob-Veranstaltungen. So hat jeder erst mal ein Getränk in der Hand und es lässt sich praktisch nicht mehr unterscheiden wer arm und wer reich ist.

Was die Digitalisierung, bzw. Wlan betrifft, so haben wir vor Corona, die von Altersarmut betroffenen Personen in Büchereien oder Einkaufszentren geschickt, wo es kostenfreies Wlan gibt, damit auch diese Menschen an unseren Angeboten teilhaben konnten. Die haben wir in der Pandemie, durch die Schließung dieser Möglichkeiten, leider verloren.

Dagmar Hirche vom Verein Wege aus der Einsamkeit mit einer Seniorengruppe
Dagmar Hirche vom Verein Wege aus der Einsamkeit (links)

Stets umtriebig und immer zur Stelle, wenn es Fragen gibt: Dagmar Hirche

Wie finanziert sich der Verein mit all seinen Angeboten?

Wir finanzieren uns rein aus Spenden und durch die Unterstützung von Privatpersonen.

Hat der Verein noch andere interessante Projekte, außer den schon genannten?

Seit elf Jahren gibt es unseren Wettbewerb Zuhause hat Zukunft. Damit wollen wir interessante Projekte, die das Leben alter Menschen verbessern und ihnen die Möglichkeit geben möglichst lange selbstständig leben zu können, mehr Sichtbarkeit verschaffen. Auf diese Weise haben wir schon ganz viele tolle Projekte kennenlernen und vorstellen dürfen.

Seniorengruppe des Vereins Wege aus der Einsamkeit

Gemeinsam geht alles leichter: Ältere Menschen helfen sich gegenseitig, wenn es mit dem Smartphone mal nicht klappen will

Der Entertainer und Musiker Maximilian Arland ist Botschafter von Wege aus der Einsamkeit – wie ist diese Zusammenarbeit entstanden?

2011 wurde ich von der Zeitschrift Bild der Frau mit dem Preis Goldene Bild der Frau ausgezeichnet. Die Verleihung ist immer mit einer großen Gala verbunden, und damals war auch Maximilian Arland zu Gast. Im Laufe des Abends kam er auf mich zu und meinte, er würde meine Arbeit ganz toll finden und dass er sich gerne in unserem Verein engagieren würde. Seither ist er bei uns aktiv als Botschafter tätig und lässt sich immer wieder gerne bei uns blicken. Als Botschafter macht er Werbung für unsere Arbeit, bringt uns ins Gespräch und sorgt so für mehr Sichtbarkeit. Außerdem hat er die Gewinne seines Jubiläumskonzertes an uns gespendet.

Was sind deiner Meinung nach eigentlich positive Aspekte des Alters?

Ich ganz persönlich, ich bin jetzt 64, ich möchte nicht mehr 30 oder 40 sein. Zu dieser Zeit war ich karrieregetrieben und wollte alles perfekt machen. Heute bin ich viel gelassener. Es muss längst nicht mehr alles perfekt sein, ich muss nicht perfekt sein. Ich frage mich nicht mehr, schadet dies oder jenes meiner Karriere oder was sagen andere dazu. Je älter ich werde, umso egaler ist mir das alles. Ich finde im Alter lernt man zudem besser mit Einschränkungen zurecht zu kommen und diese gut zu kompensieren.

Unsere Teilnehmer bestätigen auch immer wieder, dass sie es genießen keine Verpflichtungen mehr zu haben, dass sie das machen können, was sie wollen. Und immer mehr genießen sie jetzt tatsächlich auch die Vorteile der digitalen Welt. Sie schauen Konzerte auf Youtube, treffen sich per Zoom zum gemeinsamen Fußball oder sonntags zum Tatort schauen etc., und sind so miteinander und mit der Außenwelt verbunden.

Wird es bald wieder analoge Veranstaltungen geben?

Ja, wir fangen wieder an. In Berlin werden das teilweise Hybridveranstaltungen sein, also sowohl analog als auch digital.

Was steht für den Verein in Zukunft auf dem Plan?

Wir suchen weiterhin Ehrenamtler und Räume, damit wir unsere Versilberungs-Runden auch in anderen Städten anbieten können.

Liebe Dagmar, herzlichen Dank für das Gespräch und viel Erfolg weiterhin.

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Einen Überblick der Aktivitäten von Wege aus der Einsamkeit findet sich HIER, zur Teilhabe der stetig wachsenden Community des Vereins einfach mal HIER auf Facebook reinschauen! Die ditigitale Welt bringt Dagmar Hirche den Senioren in ihrem Buch Wir versilbern das Netz näher – eine Pflichtlektüre für alle 65+ ohne digitale Erfahrung…

Buch-Cover der Publikation „Wir versilbern das Netzt", herausgegeben von Dagmar Hirche

Gemeinsam mit Dagmar Hirche, Gründerin des Vereins Wege aus der Einsamkeit setzt sich Facebook dafür ein, die gesellschaftliche und digitale Teilhabe von Senior:innen voranzutreiben. In dieser Lernvideo-Reihe auf YouTube erklärt Dagmar Hirche den Umgang mit Smartphone, Apps und weiteren digitalen Tools für den Alltag.

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