Anna Yona: Der Impuls kam aus zwei sehr unterschiedlichen Richtungen, die aber beide sehr wichtig waren, um die Gründungsidee mit voller Energie durchzuziehen. Zuerst wollten wir wirklich unbedingt einen besseren Schuh entwickeln, der viele gesundheitliche Probleme vermeidet, die durch konventionelle Schuhe entstehen können. Wir haben darin einen großen Sinn und Mehrwert gesehen und sind deshalb mit viel Leidenschaft an die Produktentwicklung gegangen. Auf der anderen Seite brauchten wir nach dem Umzug dringend eine neue Möglichkeit, unsere Familie zu ernähren. Der existenzielle Druck hat auch großen Fokus geschaffen. Wir wussten: Das muss klappen!
Es ist ein bisschen so, als würde man mit einem zu schnellen Transportmittel reisen. Man ist zwar da und funktioniert, aber die Seele ist noch unterwegs und so richtig erfasst hat man die neue Umgebung auch noch nicht. Vor allem die ersten Jahre haben sich angefühlt, als würde man der neuen Realität und den neuen Anforderungen an einen selbst immer einen Schritt hinterherlaufen.
Was mir dabei sehr geholfen hat, mich selbst und den Kurs nicht zu verlieren, war mir immer wieder klarzumachen, warum wir das alles tun. Was unser großes Ziel ist (ein neues Laufgefühl und mehr Gesundheit für Kinder und Erwachsene), nach welchen Werten wir handeln möchten und nicht zuletzt auch, mit welchen tollen Menschen wir das alles gemeinsam stemmen.
„Unser großes Ziel: Ein neues Laufgefühl, mehr Gesundheit für Kinder und Erwachsene – und so zu handeln, wie unsere eigenen Werte es vorgeben“
Das Wichtigste war für mich zu verstehen, dass die Verantwortung für Einzelne gegen die Verantwortung für alle abgewogen werden muss und manchmal zum Schutz von vielen Entscheidungen getroffen werden müssen, die eine harte Konsequenz für einige Menschen bedeuten können. Nachdem die Notwendigkeit der Entscheidung klar war und wir alle Alternativen ausgeschlossen hatten, habe ich mich mit meinen Kolleg:innen dann eher darauf konzentriert, wie wir die Bedingungen und den Prozess für das Team vor, während und nach den Kündigungen so gestalten können, dass er unseren Werten entspricht und die Menschen so gut wie möglich auffängt.
Von Bänker:innen, Schuhexpert:innen und Gründungsberater:innen für verrückt erklärt oder zumindest nicht wirklich ernst genommen zu werden, war gerade am Anfang eher Regel als Ausnahme. Es ist, glaube ich, ganz normal, dass viele Menschen sich mit Abstraktion, neuen Ideen oder anderen Herangehensweisen nicht so leichttun. Das stört mich überhaupt nicht, es sei denn, es steht einer guten Idee einfach nur sinnlos im Weg.
Schwieriger finde ich es manchmal im Team. Auch da gibt es unterschiedliche Fähigkeiten mit innovativem Denken umzugehen und das ist auch gut so – nicht alle können sich um die Vision kümmern. Auch Umsetzung, Strukturen zu schaffen und Prozesse zu gestalten, gehören zu den wichtigen Kompetenzen in jedem Team. Dennoch muss man in jeder Struktur Freiräume für Innovation und „Out of the box”-Denken schaffen – entweder, indem sie von Anfang an eingeplant werden, oder indem man Menschen erlaubt, sich diese zu nehmen. Das kann durchaus Reibung erzeugen und die Konflikte muss man dann nutzen, um gegenseitiges Verständnis zu schaffen.
„Wenn ein Unternehmen rasant wächst, ist es ein bisschen so, als würde man mit einem zu schnellen Transportmittel reisen: Man ist zwar da und funktioniert, aber die Seele ist noch unterwegs“
Ehrlich gesagt – gar nicht. Wildling ist immer auch Teil unserer Familie, Stoff für Diskussion am Küchentisch oder beim morgentlichen Hundespaziergang morgens. Es ist aber in Ordnung so für uns alle. Wichtig finde ich, dass viele andere Themen auch Platz finden, dass man Zeit füreinander schafft und in diesen Momenten ganz da ist. Kein Telefon am Tisch oder während eines Gesprächs aufmerksam zuzuhören und echtes Interesse am Anderen zu zeigen. Das gilt für uns und die Kinder gleichermaßen.
Ich bin mein ganzes Leben mit relativ wenig Geld ausgekommen. Mein Vater war Lehrer, meine Mutter lang nicht berufstätig. Es war immer viel Leben im Haus mit vier Kindern, viel Natur ringsum, viel gefühlte Sicherheit in den Beziehungen und natürlich auch im festen Einkommen, aber auch nie viel Geld für große Sprünge. Das hat mir auch nachher im Leben viel Halt gegeben und den Blick auf das Wesentliche gelenkt. Das ist im Prinzip bis heute so.
Natürlich ist es eine große Erleichterung, nicht mehr jeden Monat Sorgen zu haben, wie man bis zum Ende durchkommt. Und ich bin sehr dankbar dafür, dass wir z.B. einmal im Jahr unsere Familie in Israel besuchen können, ohne lange darüber nachdenken zu müssen, wie wir das finanzieren können. Wir wohnen in einem Haus mit Garten auf dem Land, haben Hunde, Ponys und Kaninchen. Morgens mit den Hunden durch den Wald zu streifen, über meine eigenen Termine verfügen zu können, die Kinder mittags zu Hause und meine Eltern in der Nähe zu haben, nachmittags an den See zum Schwimmen fahren können und mir Klavierunterricht zu leisten – das ist mein Luxus und ich bin mir bewusst, wie wertvoll das ist.
„Wildling ist immer auch Teil unserer Familie, Stoff für Diskussion am Küchentisch oder beim morgentlichen Hundespaziergang“
Wir beide verstehen uns als Team und teilen uns die Aufgaben so auf, wie es gerade am sinnvollsten scheint. In Israel hat mein Mann viel gearbeitet und ich habe mich vor allem um die kleinen Kinder gekümmert. Wildling haben wir dann gemeinsam umgesetzt, aber weil ich besser Deutsch konnte, war es schnell so, dass ich mehr in die operative Arbeit eingebunden war und mein Mann sich dadurch mehr um das Familienmanagement gekümmert hat. Mittlerweile ist es so, dass ich mehr Aufgaben ans Team abgeben kann und dadurch auch wieder mehr Zeit vorhanden ist, mich um die Familie zu kümmern. Was sehr wichtig ist für mich: Wir kennen und schätzen beide den jeweiligen Aufwand des anderen und wissen z. B. beide sehr genau, dass Familienmanagement eigentlich die anstrengendere Aufgabe von beiden ist, obwohl in der öffentlichen Wahrnehmung das Führen eines Unternehmens höher angesehen ist. Das muss sich dringend ändern.
Ich mache jeden Tag Sport, am besten gleich morgens nach dem Aufstehen. Nach dem Krafttraining geht es mit den Hunden durch den Wald und dann ab in die Dusche, dann kann der Tag eigentlich nur noch gut werden.
Ich ernähre mich sehr gesund: kaum Zucker, kein Alkohol, keine Fertigprodukte. Das ist auch ein Luxus, den wir uns leisten (können): jeden Tag frisch zu kochen für uns und die Kinder. Da wir als Team sehr viel im Homeoffice arbeiten und dadurch der Alltag viel von Bildschirmzeit und virtuellen Meetings geprägt ist, versuche ich zumindest einige Meetings als Telefonat beim Spaziergang zu führen. Und privat meine Bildschirmzeit hart einzuschränken, mit Limit und Passwort. Was ich auf jeden Fall brauche, um ausgeglichen zu sein und zu bleiben, ist möglichst viel an der frischen Luft zu sein und Musik zu machen. Das entspannt mich immer am meisten.
Ich glaube, es ist wichtig, überhaupt Eigenschaften zu haben – für beides. Eine Marke braucht Werte, ein Ziel und auch Dinge, die sie nicht tut und wo sie sich treu bleibt. Dann kann man sich damit identifizieren.
Menschen, egal ob sie gründen oder nicht, sind mir auch immer lieber, wenn sie eine Persönlichkeit haben und nicht so rundgewaschen und durchoptimiert sind.
Was mir bei der Gründung geholfen hat (aber da gibt es sicher tausend unterschiedliche Erfahrungen und Geschichten), waren meine Neugier, der Spaß daran Probleme zu lösen, Lust, Beziehungen aufzubauen und anderen zu vertrauen, scheinbar ein nur recht rudimentär entwickeltes Risikobewusstsein zu haben und (wahrscheinlich auch im Zusammenhang damit), die Erkenntnis, dass Gründen eher Schach als Roulette ist – vieles lässt sich durchdenken und verliert damit seine Ungewissheit.
Alles, was da ist. Führung ohne Empathie ist unmöglich und ein zu viel davon gibt es, glaube ich, nicht. Empathie heißt aber ja auch nicht, dass man auf jedes erkannte Bedürfnis der Gegenseite mit einer Erfüllung dessen reagieren muss, sondern erstmal nur, dass ich die komplexen Ebenen von Gedanken, Emotionen, Bedürfnissen und Eigenschaften von Kolleg:innen und Teams erkennen und nachempfinden kann. Das ist aus meiner Sicht die Grundvoraussetzung dafür, eine so komplexe Welt wie eine Arbeitsgemeinschaft gut zu navigieren.
„Führung ohne Empathie ist unmöglich und ich glaube, ein zu viel davon gibt es nicht. Ich muss die komplexen Ebenen von Gedanken, Emotionen, Bedürfnissen und Eigenschaften von Kolleg:innen und Teams erkennen und nachempfinden können“
Es hat Momente gegeben (z.B. gleich zu Anfang der Pandemie), an denen wir ein paar Wochen lang Angst haben mussten, dass uns diese Entscheidung einfach aufgedrängt wird. Zum Glück ist es nicht dazu gekommen. Von uns aus haben wir uns diese Frage bislang nicht gestellt.
Im Prinzip geht es darum, wie wir als Unternehmen nicht nur Schaden minimieren, sondern einen positiven Beitrag leisten können – indem wir unser wirtschaftliches Handeln an den Prinzipien eines Ökosystems ausrichten, das nicht nur nimmt und verbraucht, sondern auch zurückgibt, erneuert und stärkt. Diese Prinzipien lassen sich insbesondere auf die Wertschöpfung übertragen (vom Anbau der Rohstoffe bis hin zum Recycling), aber auch auf den Umgang mit Finanzen oder die Gestaltung der Arbeitswelt. Für alle Bereiche gilt dabei: Es ist relativ einfach, neue Wege zu definieren, aber überhaupt nicht leicht diese umzusetzen, solange das Wirtschaftssystem, innerhalb dessen wir agieren, nach anderen Rahmenbedingungen funktioniert.
Remote-Arbeit ist ja spätestens seit der Pandemie sehr vielen Menschen bekannt. Ebenso die Vor- und Nachteile dessen. Zu den Vorteilen gehört definitiv eine sehr große Flexibilität, was Arbeitszeiteinteilung, Arbeitsort, aber zum Beispiel auch Recruiting betrifft. Zu den Nachteilen gehört, dass es sehr viel schwieriger ist, eine Gemeinschaft virtuell zu gestalten. Selbst wenn das virtuelle Umfeld durchoptimiert ist, um die Vorteile optimal und effizient zu nutzen, fehlt häufig das tatsächliche Miteinander. Dafür muss zusätzlich Raum geschaffen werden – etwa durch gemeinsame Treffen und Erlebnisse, Co-Working-Angebote und virtuelle Kaffeküchenformate. Wichtig ist auch, einen Umgang mit den vielseitigen Ablenkungs- und Störfaktoren der virtuellen Arbeitswelt zu finden, etwa indem man (individuelle oder gemeinschaftliche) Fokuszeiten einführt, die nicht durch Chats oder Meetings unterbrochen werden.
„Uns geht es darum, unser wirtschaftliches Handeln an den Prinzipien eines Ökosystems auszurichten, das nicht nur nimmt und verbraucht, sondern auch zurückgibt, erneuert und stärkt“
Absolut. Wenn die richtige Idee da ist und man dafür brennt, dann ist jeder Zeitpunkt der richtige, zu dem man genug Zeit findet (oder schaffen kann), sich darum zu kümmern.
Als Kind dachte ich, dass die Erwachsenen halt erwachsen sind. Der Punkt, an dem man dann so eindeutig merkt, dass man jetzt erwachsen ist, hat sich aber irgendwie nie so richtig eingestellt. Sicher gibt es Stufen, an denen man plötzlich reift – Mutter werden, wenn sich das Sorge-Verhältnis zu den Eltern umdreht etc. Aber oft schaue ich eher überrascht von der Seite drauf, weil das innere Kind nicht zu den Falten auf dem Foto passt oder weil man plötzlich merkt, dass irgendwie (im guten Fall) die Hälfte des Lebens schon vorbei ist. Grundsätzlich kann ich aber jeder Lebenszeit etwas Schönes abgewinnen, bin dankbar für sehr intensiv erlebte Lebensphasen und neugierig auf das, was da noch kommt…
Anna studierte Nahost-Studien und englischen Literaturwissenschaft an der Tel Aviv University und arbeitete unter anderem als freie Übersetzerin und Journalistin. 2015 gründete sie gemeinsam mit ihrem Mann Ran Yona das Unternehmen Wildling Shoes, das aus ökologischen Naturstoffen und unter Einhaltung von fairen Arbeitsbedingungen handgefertigte Minimalschuhe für Kinder und Erwachsene produziert. Das Unternehmen hat diverse Design-, Gründer- und Unternehmerpreise gewonnen, darunter den Deutschen Gründerpreis und den Deutschen Nachhaltigkeitspreis. Mit ihrem Unternehmen will Anna positiven Einfluss auf alle Bereiche der Wertschöpfungskette nehmen und setzt sich aktiv für nachhaltige und faire Rohstoffgewinnung, maximal faire Produktion, Langlebigkeit und Wiederverwertung ein.