„Gewalt gegen Frauen und ihre Verächtlichmachung wird noch immer bis weit in die Mitte unserer Gesellschaft akzeptiert“

Menschenrechte im digitalen Raum – ein wichtiges Thema, denn digitale Gewalt ist in unserer Zeit allgegenwärtig. Fast jede zweite Person wurde schon einmal online beleidigt. Besonders für junge Frauen sind sexualisierte Übergriffe in den sozialen Netzwerken Alltag. Die gemeinnützige Organisation HateAid unterstützt Betroffene und engagiert sich auf gesellschaftlicher sowie politischer Ebene gegen digitale Gewalt. HEYDAY sprach mit HateAid-Co-Founderin und Geschäftsführerin Anna-Lena von Hodenberg (42) über Hass im Netz – und was man dagegen tun kann

FOTOS: Andrea Heinsohn, David Frank für Power for Democracy, HateAid

Journalistin und HateAid-CEO Anna-Lena von Hodenberg setzt sich für Menschenrechte und gegen Hass im digitalen Raum ein. Ihr Ziel: Das Netz zu einem positiven Ort zu machen, in dem demokratische Werte für alle gelten

Digitale Gewalt trifft vielleicht nicht jede:n direkt. Aber dennoch betrifft sie uns alle. Denn es geht dabei um den Erhalt unserer Meinungsfreiheit. Demokratie kann nur funktionieren, wenn sich alle Menschen im Netz sicher fühlen und sich angstfrei öffentlich äußern können. Seit 2018 bietet die Menschenrechtsorganisation HateAid Betroffenen digitaler Gewalt Unterstützung: Wer online beleidigt, verleumdet oder gar bedroht wird, und selbst keinen Hass verbreitet, kann bei HateAid Beistand erhalten – unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, sexueller Orientierung und politischer Meinung. Mehr dazu in unserem Interview mit HateAid-Gründerin Anna-Lena von Hodenberg.

Liebe Anna-Lena, was genau ist HateAid?

Wir sind eine gemeinnützige Organisation, die sich für Menschenrechte im digitalen Raum einsetzt. Wir beraten Betroffene, finanzieren Zivilprozesse und arbeiten als Expert:innen mit Politik, Strafverfolgungsbehörden und der Zivilgesellschaft zusammen.

Was hast du gemacht, bevor du HateAid mitgegründet hast und wie kam es zur Gründung?

Ich bin eigentlich gelernte Fernsehjournalistin und habe für RTL und den NDR gearbeitet. 2015 bin ich dann als politische Campaignerin zu Campact gegangen und habe dort zu Kampagnen gegen Rechtsextremismus und für Demokratiestärkung gearbeitet. So bin ich auf das Phänomen „digitale Gewalt“ und Hasskampagnen gestoßen, die vor allem von der organisierten Rechten als Mittel genutzt werden, um Menschen im Netz einzuschüchtern und mundtot zu machen. Die Algorithmen der Plattformen verstärken das zusätzlich. Ich bin bis heute davon überzeugt, dass das eine der größten Gefahren für unsere Demokratie ist. Dem wollten die drei Founder und ich mit HateAid etwas entgegensetzen.

„Ich bin davon überzeugt, dass digitale Gewalt eine der größten Gefahren für unsere Demokratie darstellt. Dem wollen wir mit HateAid etwas entgegensetzen“

Wie finanziert sich HateAid?

Die Betroffenenberatung wird durch das Familien- und Justizministerium mitfinanziert. Der Rest kommt aus Stiftungen wie der Alfred Landecker Stiftung, der Demokratie Stiftung, der Postcode Lotterie und der Schöpflin Stiftung. Dazu kommen viele freie Spenden von Einzelpersonen, die unsere Arbeit wichtig finden.

Welche Erfahrungen hast du persönlich mit digitaler Gewalt gemacht?

Ich bin erst seit meiner Arbeit bei HateAid selbst angegriffen worden. Allerdings nie so massiv wie viele unserer Klient:innen.

Wo fängt digitale Gewalt an?

Digitale Gewalt ist erst einmal subjektiv. Sie fängt da an, wo ich mich angegriffen fühle. Dort, wo ich merke, dass jemand nicht mehr mit mir in der Sache streitet, sondern anfängt, mich als Person anzugreifen und verächtlich zu machen. Das kann auf viele Arten passieren und muss auch zunächst nicht rechtswidrig sein. Das kennen wir ja auch aus dem analogen Leben.

Was sind die häufigsten Arten digitaler Gewalt?

Am häufigsten ist definitiv die Beleidigung. Damit fangen meistens auch Hasskampagnen an. Eine Beleidigung ist schnell getippt. Dann kommen Gewaltandrohungen, Morddrohungen oder Vergewaltigungsandrohungen. Die Veröffentlichung privater Daten, wie der Wohnadresse, ist auch etwas, das wir vermehrt beobachten. In letzter Zeit sehen wir auch oft gefälschte oder geklaute Nacktbilder von Frauen, die dann auf Pornoplattformen veröffentlicht werden. Das trifft Politiker:innen, Journalist:innen, Aktivist:innen – und Frauen, die nicht in der Öffentlichkeit stehen. Es geht um Diffamierung und darum, sie bloßzustellen.

Wie kommt es, dass vor allem Frauen von digitaler Gewalt betroffen sind?

Frauenhass ist so etwas wie der Kitt, der ganz viele unterschiedliche gewaltvolle Gruppen im Netz vereint. Er ist inhärenter Teil des Rechtsextremismus, er gehört zum Islamismus, ist Basis der sogenannten Manosphere, also der frauenfeindlichen Gruppen wie der Incels. Auch Hater:innen/Hassende sind oft frauenfeindlich.

Aber das Schlimmste ist, dass Gewalt gegen Frauen und ihre Verächtlichmachung in unterschiedlichen Abstufungen noch immer in unserer Gesellschaft akzeptiert werden, und zwar weit bis in die Mitte der Gesellschaft. Wir leben in einem System, das Frauen strukturell zu Objekten macht. Männer übrigens auch. Aber es gibt eben ein Machtverhältnis, welches die Frauen zu Opfern und Männer zu Tätern macht. Übrigens ist die Gewalt noch massiver und wahrscheinlicher, wenn Frauen noch weitere Diskriminierungsmerkmale haben – wenn sie beispielsweise zudem jüdisch oder schwarz sind.

Welche Themen sind besonders „hassanfällig”?

Hass-Evergreens sind Migration, Feminismus oder Rechtsextremismus. Das ändert sich aber auch und passt sich der Aktualität an. So kommt vermehrt Klimaschutz hinzu, ein weiteres Beispiel war die Coronakrise mit dem Impfthema.

Wie kann HateAid Betroffenen ganz konkret helfen?

Betroffene können während unserer Sprechstunde bei uns anrufen oder sich per E-Mail, App oder Social Media melden. Die Mitarbeiter:innen versuchen dort Betroffene emotional aufzufangen und unterstützen sie mit Sicherheits- und Kommunikationsberatungen. Außerdem finanzieren wir in geeigneten Fällen Zivilprozesse. Denn gerade bei Beleidigungen und Verleumdungen kann man oft nur selbst mit eigener Anwältin oder eigenem Anwalt vorgehen. Das ist jedoch für ganz viele Menschen schlicht zu teuer.

HEYDAY-Interview mit HateAid-Co-Founderin und Gründungsgeschäftsführerin Anna-Lena von Hodenberg: Politikerin Renate Kynast für HateAid
Politikerin Renate Künast wurde Opfer von Hasskampagnen und wandte sich daraufhin an HateAid. Gemeinsam sind sie vor das Bundesverfassungsgericht und Recht bekommen

Welche Rolle hat HateAid bei dem beispielhaften Fall von Grünen-Politikerin Renate Künast gespielt? Es ging dabei um eine Klage gegen Facebook

Renate Künast ist HateAid-Klientin der ersten Stunde. Sie wurde vor einigen Jahren von einem bekannten Rechtsextremisten im Netz verleumdet und hat daraufhin viele üble Hasskommentare abbekommen. Die hatten wir damals für sie gesichert. Um von Facebook an die Namen der Täter:innen zu kommen, musste Frau Künast von einem Gericht feststellen lassen, dass die Hasskommentare illegal und nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt sind.

Dabei haben wir renate Künast im Rahmen unseres Angebots der Prozesskostenfinanzierung unterstützt – und sind aus allen Wolken gefallen, als wir feststellen mussten, dass das Landgericht Berlin Kommentare wie „Drecksfotze“ als von der Meinungsfreiheit gedeckt ansah. Wir haben die Politikerin dann durch die Instanzen begleitet und sind mit ihr vor das Bundesverfassungsgericht gezogen. Am Ende haben wir Recht bekommen und gleichzeitig ein grundsätzliches Urteil erstritten, das jetzt vielen Betroffenen zugutekommt. Weil wir gemeinsam dran geblieben sind, haben wir ein Stück Rechtsgeschichte geschrieben.

Wann hat man eine reelle Chance auf Erfolg, wenn man gegen digitale Gewalt vorgeht? Was kann man überhaupt zur Anzeige bringen?

Anzeigen kann man alles, was strafbar ist. Das sind z.B. Beleidigungen, Verleumdungen, Vergewaltigungs- oder Morddrohungen. Seit einiger Zeit kommt zum Beispiel auch die Nennung auf sogenannten „Feindeslisten” hinzu. Ob die Anzeige letztlich Erfolg hat, hängt von vielen Faktoren ab: Kann man die Täter:innen ermitteln, wie engagiert wird ermittelt, wird frauenfeindliche oder rassistische Gewalt auch als solche erkannt etc.

„Frauenhass ist so etwas wie der Kitt,
der ganz viele unterschiedliche
gewaltvolle Gruppen im Netz vereint”

Ich glaube, viele Menschen nehmen Belästigungen und Beleidigungen schlichtweg hin. Warum wehren sich so viele Betroffene erst gar nicht?

Das liegt daran, dass es so wenig Konsequenzen seitens der Plattformen gibt. Bislang ist in den meisten Fällen das Schlimmste, was Tätern oder Täterinnen passieren kann, dass ihr Hass-Posting von der jeweiligen Plattform verschwindet. Die Plattformen sanktionieren nur sehr willkürlich. Viel Hate wird noch nicht einmal gelöscht.

Ähnlich ist es bei den Strafverfolgungsbehörden und der Justiz. Es gibt zu wenig Verurteilungen. Das ist ein Signal an die Täter:innen, dass sie einfach unbehelligt weitermachen können. Und gleichzeitig ein Signal an die Betroffenen, dass sie sich das gefallen lassen müssen. Das ist sehr gefährlich für unsere gesamtgesellschaftlichen Debatten, die immer mehr verrohen.

Wie gehe ich vor, wenn ich etwas melden oder gar zur Anzeige bringen möchte?

Man kann Anzeige auf der Polizeidienststelle erstatten oder in vielen Bundesländern mittlerweile auch sehr einfach online. Wer etwas melden möchte, sollte auf jeden Fall die Meldemöglichkeit wählen, die die Plattformen durch den sog. Digital Services Act (DSA) bereitstellen müssen. Denn nur bei Meldungen von rechtswidrigen Inhalten auf Grundlage des DSA, sind die Plattformen auch gesetzlich dazu verpflichtet, die Meldung zu prüfen. Und dann müssen sie Inhalte eventuell auch löschen. Passiert das nicht, können Betroffene noch weitere Schritte gegen die Plattform unternehmen. Sie können sich zum Beispiel bei der Bundesnetzagentur darüber beschweren, dass eine Plattform die DSA nicht einhält.

HEYDAY-Interview mit HateAid-Co-Founderin und Gründungsgeschäftsführerin Anna-Lena von Hodenberg

„Unsere Mitarbeiter:innen versuchen die Betroffenen von digitaler Gewalt emotional aufzufangen und unterstützen sie mit Sicherheits- und Kommunikations-beratungen. Außerdem finanzieren wir in geeigneten Fällen Zivilprozesse“

Wie weit gehen Hater heute?

Viele gehen in der Masse unter und folgen der Gruppendynamik. Die kann sich schnell radikalisieren. Los geht es mit Beleidigungen, dann kommen Morddrohungen und schließlich werden private Daten über die angegriffene Person recherchiert. Dann ist die Adresse im Netz. Und dann kann es leider passieren, dass auch jemand im analogen Leben dort vorbeigeht und physische Gewalt ausübt.

Das muss nicht einmal einer der ursprünglichen Hater sein, sondern auch einfach ein gewaltbereiter Mitleser. Das ist ja das Gefährliche an den sozialen Netzwerken, dass sich die Hasskampagnen schnell unkontrolliert verbreiten und als Motor auch für physische Gewalt dienen. Einer der schlimmsten Fälle ist sicherlich der Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke. Aber auch der Täter, der die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker angriff, hatte sich im Netz radikalisiert.

Mit welchen Konsequenzen müssen verurteilte Hater rechnen?

Das ist ganz unterschiedlich. Im Strafverfahren können Täter:innen je nach Delikt zu Geldstrafen oder auch Freiheitsstrafen verurteilt werden. Bei einem erfolgreichen zivilrechtlichen Vorgehen werden Hater:innen in der Regel zur Unterlassung und Löschung verurtelt, in schweren Fällen auch zur Zahlung einer Geldentschädigung. Und sie müssen die vollen Gerichts- und Anwaltskosten zahlen. Das kann sehr schnell sehr teuer werden.

Wie schwer ist es, Hater im Netz dranzukriegen?

Das kommt darauf an, aber gerade wenn Täter:innen anonym agieren, ist es für die Strafverfolgungsbehörden nicht einfach, sie zu identifizieren. Oft sind sie auf die Kooperationsbereitschaft der Plattformen angewiesen. In vielen Fällen weigern sich die Plattformen aber, die Daten der mutmaßlichen Täter:innen herauszugeben. Oder aber, die bei den Plattformen gespeicherten Daten sind nicht brauchbar, weil z.B. bei der Anmeldung auf der Plattform durch die Hater:innen falsche Daten verwendet wurden.

Was sind das für Menschen, die digitale Gewalt ausüben?

Es gibt organisierte Netzwerke, gerade im rechtsextremen Bereich oder auch in der frauenfeindlichen Szene, die sich verabreden und gezielt Menschen angreifen, um sie mundtot zu machen. Und dann gibt es ganz viele Menschen, die darauf aufspringen. Denn Hass und Empörung haben etwas Ansteckendes, wenn man selbst in so einer Grundstimmung ist. Die Anonymität tut dann ihr Übriges. Man verbreitet Hate und dann klappt man den Rechner einfach zu und vergisst, dass auf der anderen Seite ein Mensch sitzt, der den Hass nicht einfach ausblenden kann.

Wie sollte man deiner Meinung nach auf einen plötzlichen, überraschenden Shitstorm reagieren?

Betroffene eines Shitstorms sollten versuchen, sich so schnell wie möglich zu distanzieren und nicht allein zu bleiben. Gut ist es, wenn Freund:innen erst einmal die Kanäle übernehmen, Beweise sichern und Löschanträge stellen. Dann sollte man Anzeige erstatten und den Kontakt mit einer Beratungsstelle aufnehmen. Oft sind Shitstorms nach ein paar Tagen vorbei. Der beste Schutz für Betroffene ist, sich emotional nicht zu sehr hineinziehen zu lassen.

„Im Fall Renate Künast haben wir ein grundsätzliches
Urteil erstritten, das jetzt vielen Betroffenen
zugutekommen wird. Weil wir gemeinsam dran geblieben sind, haben wir ein Stück Rechtsgeschichte geschrieben”

HateAid-Co-Founderin und Gründungsgeschäftsführerin Anna-Lena von Hodenberg (li.) mit Josephine Ballon, Rechtsanwältin und HateAid Head of Legal
Ein gutes Team: HateAid-Co-Founderin und Gründungsgeschäftsführerin Anna-Lena von Hodenberg mit Josephine Ballon (re.), Rechtsanwältin und Geschäftsfühererin von HateAid

Was wünscht ihr euch in der Zukunft von der Politik?

Wir wünschen uns vor allem, dass es mehr Strafverfolgung gibt. Dazu müssen Plattformen stärker dazu angehalten werden, mit den Strafverfolgungsbehörden zu kooperieren und dabei unterstützen, dass Täter:innen für ihr Handeln zur Verantwortung gezogen werden. Und vor allem müssen Frauen im Netz besser geschützt werden. Wir setzen uns z.B. dafür ein, dass Betroffene besser vor digitaler Gewalt durch sexualisierte Deepfakes und ihre Verbreitung geschützt werden. Und wir benötigen mehr Transparenz auf den Plattformen sowie den Zugang von Wissenschaft und Zivilgesellschaft, damit die Folgen für unsere Gesellschaft auch seriös untersucht werden können.


Mehr über Anna-Lena von Hodenberg

HateAid-CEO Anna-Lena von Hodenberg ist gelernte Journalistin und arbeitete u.a. für RTL und den NDR. 2018 gründete sie gemeinsam mit Campact e. V., Fearless Democracy e. V. und einem gegen rechte Gewalt engagierten Volljuristen die HateAid GmbH. 2020 wurde sie mit dem Digital Female Leader Award ausgezeichnet, 2021 von der Zeitschrift Capital zu den „Top 40 unter 40“ gekürt und zum Ashoka Fellow berufen. HateAid unterstützte bis dato mehr als 5000 Betroffene von Hass im Netz.

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