Enkelin Sina Dauernheim beschreibt den rasanten Verlauf der unberechenbar und schnell fortschreitenden Alzheimer-Erkrankung ihrer Großmutter Lotte. Ganz unverblühmt und ehrlich…
Eine simple Frage. Nicht weiter ungewöhnlich. Jedem von uns wurde sie schon gestellt. Doch die Besonderheit liegt nicht an der Frage selbst. Sondern an der Person, die sie stellt. In welchem Moment und mit welcher Ernsthaftigkeit…
Es war Sommer, als ich in der Haustür meiner Großeltern stand. 50 Meter hinter meinem Elternhaus. Seit 21 Jahren ist die Tür nur angelehnt. Ich stoße sie auf. Voller Vorfreude auf Oma Lotte und Opa Erich. Seit meinem Auszug vor vier Jahren besuche ich meine Heimat nur sporadisch. Deshalb sind diese Art von Treffen immer wieder besonders und wichtig. Jedes Mal strahlen meine Großeltern über das ganze Gesicht. Sie springen euphorisch aus ihren Sesseln, fallen im selben Moment aber wieder in sie zurück. Ihre Beine und Gleichgewichtssinne sind diese Art von Freudensprung nicht mehr gewohnt. Sie rufen auf Hessisch „Unser Schätzi is’ da“ oder „Ach, unser Schatz“. Haben Tränen in den Augen und drücken mich so fest, dass verklemmte Wirbel, von der ganzen Schreibtischsitzerei für die Uni, wieder knackend an Ort und Stelle landen.
Aber dieses Mal ist etwas anders. Meine Oma Lotte (83) kommt mit ihrem Rollator angefegt. Auf den kurzen fünf Metern von der Küche bis ins Wohnzimmer, stößt sie sich. Bleibt hängen. Jede Ecke, jede Kante. Mühsam läuft sie an der Haustür vorbei, in deren Rahmen ich noch immer stehe. Sie bleibt stehen. Hebt den blond gefärbten Lockenkopf. Ihre goldenen Ohrringe schaukeln wild umher. Sie schaut mich mit ihren glasigen Augen an: „Entschuldigung, wer sind Sie?“ Ich kann mich noch zu gut daran erinnern.
Oma galt für uns schon immer als weltbeste Köchin. Bei ihr schmeckte alles am besten – selbst der Schokopudding aus der Tüte. Während der Weihnachtszeit funktionierten wir ihre Küche zu einer Weihnachtsbäckerei um. Vanillekipferl, Kokosmakronen, Butterplätzchen. Und zum Schluss das heiß geliebte Terrassengebäck. Doch mir schmeckte der rohe Teig so gut. Heimlich steckte ich mir jedes kleine Teigstück, das vom Ausstechen übrig geblieben war, genussvoll in den Mund. Später krümmte ich mich vor Übelkeit und stechendem Bauchschmerz. Jeder andere Erwachsene hätte mich zurechtgewiesen. Mir etwas von Erfahrungen am eigenen Leib erzählt. Nicht aber meine Kuschel-Oma. Sie lachte herzlich, bezeichnete mich als „Schluri“, machte mir Tee und eine Wärmflasche. Und dann kuschelten wir uns auf das Sofa und erzählten Mama erst Jahre später, was für ein Schluri ich doch war.
„Oma, ich bin es. Sina.“ Ganz deutlich zeichnet sich in ihrem Gesicht ab: Sie sucht nach dem Zusammenhang zwischen dem Namen „Sina“ und der jungen Frau vor ihr. Eine Mischung aus Verzweiflung und Traurigkeit. Der Versuch, ihre Unsicherheit zu vertuschen. Grinsend sieht sie mich an: „Aber natürlich, Sina!“. Ich schlucke schwer. Doch der riesige Kloß verschwindet nicht. Oma nennt mich normal nur bei meinem Spitznamen. „Sinchen“ oder „Schätzi“. Mir wird klar: Meine Oma weiß nicht, wer vor ihr steht und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. Meine ganze Familie fühlt sich hilflos. Unbeholfen. Wie geht man nur mit dieser neuen Situation um? Wie reagiert man in verletzenden, heiklen und verwirrten Momenten? Wie reagiert man als Ehemann, wenn man am Frühstückstisch erzählt bekommt: „Mein Ehemann Erich ist schrecklich, kümmert sich nicht um mich. Und außerdem ist meine einzige Tochter Martina eine Schlampe“. Nachts steht sie auf, schminkt sich. Oder versucht es zumindest. Zieht sich an. Will ausgehen, sich mit Freunden treffen. Stopft Handtücher, Küchentücher und Waschlappen ellenbogentief in die Toilette, bis diese überläuft. Sie schreit, kratzt, weint.
Oma versteckt Müll in allen Ecken des Hauses. Nur durch Zufall entdecken wir ihn. Getragene Unterwäsche legt sie sorgsam gefaltet zurück in den Schrank oder trägt sie in ihrer „Schatzkiste” mit sich herum.
Insgesamt leiden in Deutschland ca. 1,7 Millionen Menschen an Demenz, jährlich erkranken rund 300.000 weitere. Tendenz steigend. Bis 2050 erwarten Experten sogar rund 3 Millionen Patienten. Generell äußern sich die Symptome sehr individuell. Ein Patient verliert rasant an der Gedächtnisfunktion. Ein anderer hingegen leidet unter starken Sprach- und Wortfindungsstörungen. Hinzu kann die Abnahme emotionaler und sozialer Fähigkeiten kommen, die wiederum zu Persönlichkeitsveränderungen führen kann. Es gibt viele unterschiedliche Formen der Demenz und somit auch unterschiedliche Ursachen. Trotz der hohen Förderungen durch das Bundesministerium für Forschung besteht heutzutage noch keine Heilungsmöglichkeit. Dafür aber Wege, den Krankheitsverlauf zu mildern.
Oma ruft täglich bei der Polizei an. „Hilfe Hilfe, ich werde geschlagen!“. Zur Kontrolle stehen die Beamten vor der Tür. Drei Mal pro Woche. Oma stellt Opa als gewaltbereit und rücksichtslos dar. Dabei fängt Opa Erich sie auf, wenn sie hinfällt. Duscht sie morgens, zieht sie an, schmiert ihr Brote zum Frühstück. Er fängt ihre Hand auf, wenn sie vor Wut erneut nach im schlägt. Er bewahrt Ruhe. Selbst, wenn er bei einem ihrer Schläge das Gleichgewicht verliert und mit dem Hinterkopf auf die Heizung fällt. Selbst, wenn Oma mal wieder mit einer spitzen Nagelpfeile in der Hand auf ihn zu rennt.
Oma und Opa waren in meiner Kindheit rund um die Uhr für mich da. Sie fuhren mich zum Sport, holten mich von der Schule ab, machten mit mir Hausaufgaben. Sie brachten mir das Skifahren bei und was noch viel wichtiger ist: Sie brachten mir bei, wie man sich bei „Mensch, ärger dich nicht“ tatsächlich nicht ärgerte. Oma Lotte und Opa Erich zählten immer als Felsen in der Brandung. Oma war stets eine sehr elegante Frau. Immer passender Goldschmuck, seidig weiche Haut. Ihre Dauerwelle perfekt aufgekämmt. Die Großeltern füllten mir meine Spardosen, die mir heute mein Studium ermöglichen. Gaben einen Großteil zu meinem Auto hinzu, mit dem ich jetzt jederzeit in die Heimat fahren kan. Und vor ein paar Jahren noch, feierten wir ihre Diamanten Hochzeit und lachten gemeinsam über die kleinen Neckereien, die mein Opa schon immer mit ihr anstellte.
Weder Oma, noch Opa wollten jemals etwas von Altersvorsorge, Haushaltshilfe oder Pflegstufe hören. Sie sind Teil der Generation „Hilfe-brauche-ich-nicht“.
Keiner der zwei wollte jemals etwas von Altersvorsorge, Haushaltshilfe oder Pflegstufe hören. Sie sind Teil der Generation „Hilfe-brauche-ich-nicht“. Doch wenn ich in das verletzliche Gesicht meines Opas schaue, sehe ich Unglauben, Wut, gepaart mit Ohnmacht. Er blinzelt seine Tränen weg und bleibt stur: „Ich hab ihr versprochen, dass ich mich um sie kümmere. Für immer. Sie ist doch meine Ehefrau, meine Lotte“. Aber was er nicht wahr haben mag, sehe ich ganz deutlich. Sie ist nicht mehr seine Lotte. Meine Großeltern streiten sich täglich. Jeden Moment rechnet meine Familie mit Szenarien wie einem Treppensturz von einem der beiden. Einer Nagelpfeile oder Schere im Körper oder einem Herzinfarkt vor Wut.
Nach einiger Zeit konnte meine Mutter wenigstens einen täglichen Besuch der Diakonie durchsetzen. Zum Duschen und Anziehen. Zur körperlichen und seelischen Entlastung von Opa. Dennoch schrumpft die Kraft. Jeden Tag ein bisschen mehr. Trotz der diakonischen Hilfe, retten wir regelmäßig Küchentücher von glühenden Herdplatten. Oma versteckt Müll in allen Ecken des Hauses. Nur durch Zufall entdecken wir ihn. Halblebendig. Getragene Unterwäsche legt sie sorgsam gefaltet zurück in den Schrank oder trägt sie in ihrer „Schatzkiste“ mit sich herum – einem Korb, gefüllt mit benutzten Taschentüchern, einem Stammbuch, getragenen Socken und Müll.
Zurück in der Uni. Mein Handy klingelt. „Oma und Opa Festnetz“ steht auf dem Display. Ich nehme ab. Höre schmerzverzerrte, von Angst erfüllte Schreie: „Hol mich hier raus! Ich bin eingesperrt, der hat mich eingesperrt! Hier ist ein fremder Mann im Haus. Ich will nach Hause! Bitte, bitte, hilf mir!“. Ich benötige ein paar Sekunden. Ich schlucke schwer, mein Herz rast versuche die Fassung zu wahren. Omas panische Angst ist echt. Im Hintergrund sieht Opa fern. Das höre ich. Ich versuche sie zu beschwichtigen, lasse Opa an den Hörer.
Es ist der Moment, in dem ich als Enkeltochter keinen anderen Ausweg sehe. Oma braucht ganztägliche Pflege. Sofort. Je früher die Therapie beginnt, desto besser. Denn das Stadium der Krankheit kann sich rapide verschlechtern. Gegebenenfalls setzt man eine medikamentöse Behandlung ein. Helfen kann diese besonders im frühen oder mittleren Stadium. Sie unterstützt den Erhalt der Gedächtnisleistung und mildert Begleiterscheinungen. Kognitives Training, Ergo- und Musiktherapie oder auch Psychotherapie zählen ebenfalls zu wichtigen Therapieformen. Diese zielen auf eine Verbesserung der Stimmung ab, den Erhalt der Fähigkeiten und einer besseren Akzeptanz der Krankheit.
Demenz bedeutet nicht nur starke Einschränkungen für Betroffene, sondern vor allem für das Umfeld – ein Wechselbad der Gefühle. Schmerz, Mitleid, Ohnmacht, Ärger, Wut und Trauer sind die gängigsten Empfindungen. Aus diesem Grund ist rechtzeitige Unterstützung zu empfehlen, denn Überforderung trifft schnell ein. Um als Angehöriger selbst gesund zu bleiben, empfiehlt es sich, professionelle Hilfe einzufordern. Denn die Krankheit läuft schnell Gefahr, auch das Leben nahestehender Personen vollständig zu bestimmen.
Demenz bedeutet nicht nur starke Einschränkungen für Betroffene, sondern vor allem für das Umfeld – ein Wechselbad der Gefühle. Schmerz, Mitleid, Ohnmacht, Ärger, Wut und Trauer sind die gängigsten Empfindungen.
Nach dem Anruf in der Uni besorgte Mutter endlich einen Betreuungsplatz. Seit zwölf Monaten lebt Oma nun im Altenheim. Wir versuchen es immer unter der Rubrik „Urlaub“ zu verbuchen. Doch es fühlt sich an wie Verrat. Obwohl es eine Entscheidung für ihr Wohlergehen war. Auch Opa scheint entspannter denn je. Jetzt, nachdem auch er die Phasen von Wut auf meine Mutter, Schweigen, Trauer und Depression überwinden konnte. Seine Haushaltshilfe kocht für ihn, geht einkaufen und putzt. Er fährt seine Lotte regelmäßig besuchen. Geht mit ihr in das Café auf dem Gelände. Dort essen sie zu zweit immer den „tollen Himbeerkuchen“. Letztens saß er sogar bei Sonnenschein auf dem Fußballplatz und schaute dem Spiel meines Freunds zu. Er lachte.
Und Oma? An guten Tagen blüht sie total auf. Man nennt sie die „flotte Lotte“, die mit ihrer Rennmaschine über den Gang fegt. Wenn ich sie besuche, springt sie wie gewohnt aus ihrem Bett auf und schreit „Mein Schätzi is wieder da!“. Sie unterhält im Café alle Gäste und Angestellten mit ihren taffen Sprüchen. An solchen Tagen lässt es sich leichter lachen, wenn sie das Café als Wohnzimmer ansieht. Oder wirre Bezeichnungen von sich gibt. Aber auch die schlechten Tage gibt es. Die, an denen wir nicht lachen können. Es einfach weh tut. Tage, an denen ihr Gesicht komplett wund gekratzt ist. Vor Wut. Sie uns den Diebstahl ihres Schmucks vorwirft. Das jetzige Jahrzehnt nicht benennen kann. Die Namen der Wochentage nicht mehr weiß. Die Tage, an denen sie uns mit ihren glasigen Augen anschaut und die Frage stellt, die nach all der Zeit immer noch am meisten schmerzt: „Entschuldigung, wer sind Sie?“.
An guten Tagen blüht sie total auf. Man nennt sie die „flotte Lotte“, die mit ihrer Rennmaschine über den Gang fegt. An schlechten Tagen, ist ihr Gesicht komplett wund gekratzt. Die Tage, an denen sie uns mit ihren glasigen Augen anschaut und die Frage stellt, die nach all der Zeit immer noch am meisten schmerzt:
„Entschuldigung, wer sind Sie?“