Mode-Bloggerin und Fotografin Anja Kossiwakis (56) ist in Sachsen-Anhalt geboren und war in der DDR ein bekanntes Fotomodell. Als am 9. November 1989 die Mauer fällt, steht der damals 21-Jährigen plötzlich die ganze Welt offen – und Anja geht direkt los. Im Interview spricht sie über ihre Erlebnisse als Ost-Mannequin und wie sich ihr Leben nach der Wende verändert hat. Spaß macht ihr das Modeln immer noch: Für HEYDAY hat Anja sich in ihren Heimatstädten Dessau und Wiesbaden in cooler Strickmode ablichten lassen
FOTOS: Christina Maria Kossiwakis, Vadym Rybnyi, Günter Rössler/Modische Maschen
HEYDAY: Liebe Anja, kannst du dich noch daran erinnern, was du am 9. November 1989, dem Tag des Mauerfalls, gemacht hast?
Anja Kossiwakis: Na klar! Das war ja wirklich ein ganz besonderer Tag, den ich niemals vergessen werde. Zum damaligen Zeitpunkt habe ich in der Stadtsparkasse Dessau gearbeitet. Dienstag und Donnerstag waren unsere langen Tage. Der Arbeitstag begann bereits um 6.45 Uhr und um 17.15 Uhr hatte ich Feierabend. An diesem Abend radelten meine Eltern und ich zu Freunden nach Roßlau. Beim Abendessen stand auf einmal der Opa in der Tür und sagte uns, dass die Mauer gefallen sei. Wir dachten alle das Gleiche: Der Opa ist heute aber sehr verwirrt. Dann schaltete er den Fernseher an und wir konnten es gar nicht glauben: Die Mauer war tatsächlich gefallen! Wenn ich diese Bilder sehe, bekomme ich immer noch eine Gänsehaut. Dieser Tag hat mein ganzes Leben verändert.
Du bist in Dessau geboren und aufgewachsen. Nach der Wende bist du nach Wiesbaden gezogen. Was hat dich dazu bewegt, den Osten zu verlassen?
Meine Kindheit in Dessau war sehr schön und behütet. Dafür bin ich meiner Mama und meinem Papa unendlich dankbar. Mit meiner Familie haben wir viel gemeinsam unternommen. Das war wirklich ein tolles Familien-
leben. Allerdings hat es mich schon als Kind sehr traurig gemacht, dass wir nicht reisen konnten. Da wir viele Verwandte im Westen hatten, bekamen wir Postkarten aus der ganzen Welt. Als ich mir dann mein Postkartenalbum ansah, dachte ich, dass ich diese Reiseziele niemals sehen werde.
Da meine Tante 1974 nach Wiesbaden geflüchtet war, durften wir viele Jahre nicht einmal in das sozialistische Ausland reisen. Im Sommer 1989 wurde ich im Ungarn-Urlaub das erste Mal mit dem Thema Flucht konfrontiert. Zwei junge Männer boten mir an, dass sie mich im Auto nach Österreich mitnehmen können. Das war mir aber zu riskant, und ich hatte kein gutes Gefühl dabei.
In den kommenden Wochen machten sich immer mehr Menschen auf den Weg in den Westen und auch ich beschäftige mich immer öfter mit dem Gedanken an eine Flucht aus der DDR. Gemeinsam mit einer Freundin wollte ich am 11. November 1989 über die Tschechoslowakei in den Westen fliehen. Dann fiel glücklicherweise am 9. November 1989 die Mauer, am 10. November setzte ich mich in den Zug nach Wiesbaden und am 11. 11. 1989 kam ich in meiner neuen Heimat an.
„Da wir viele Verwandte im Westen hatten, bekamen wir Postkarten aus der ganzen Welt. Als ich mir dann mein Postkartenalbum ansah, dachte ich, dass ich diese Reiseziele niemals sehen werde“
Wie hat sich die neue Freiheit nach dem Mauerfall für dich angefühlt?
Es war einfach fantastisch! Meine ersten Reisen im Jahr 1990 führten mich nach Italien, Österreich und Frankreich. Das waren meine Traumziele! Meinen 22. Geburtstag feierte ich mit meinen Eltern in Paris und als schönste Überraschung gab es sogar ein gigantisches Feuerwerk am Eiffelturm. Ich war so glücklich! Und ich bin so dankbar, dass mir heute die ganze Welt offensteht. Ich genieße diese Freiheit immer noch, auch nach 35 Jahren Mauerfall.
In der DDR galten Frauen als emanzipierter und mehr gleichberechtigt als im Westen. Der Großteil war berufstätig, auch mit Kindern. Wie hast du die Rolle der Frau in der DDR erlebt?
In der DDR waren fast alle Frauen berufstätig. Durch die gut organisierte Kinderbetreuung war es gar kein Problem, auch mit mehreren Kindern im Berufsleben zu stehen. In der Stadtsparkasse Dessau haben außer dem Hausmeister und einem Abteilungsleiter nur Frauen gearbeitet. In der DDR gab es viele Frauen in Führungspositionen – ganz ohne Frauenquote.
Selbst 35 Jahre nach dem Mauerfall gibt es immer noch eine Kluft zwischen Ost und West. Woran liegt das deiner Meinung nach und welche Erfahrungen hast du persönlich gemacht?
Das finde ich wirklich traurig und ehrlich gesagt, verstehe ich das überhaupt nicht. Persönlich hatte ich nie Probleme mit Vorurteilen, weil ich aus der DDR komme.
Um auf deinen Leben vor der Wende zurückzukommen: Du warst eines der gefragtesten Models der DDR. Wie wurdest du entdeckt und wie verliefen die Fotoshootings damals?
Entdeckt habe ich mich praktisch selbst. An einem kleinen Modeladen hing ein Zettel vom Verlag der Frau, der Fotomodelle suchte. Also habe ich kurz entschlossen ein schönes Foto von mir ausgesucht und mich als Fotomodell beworben. Im Februar 1985 wurde ich zu Probeaufnahmen eingeladen und in die Kartei aufgenommen. Zwei Jahre später bekam ich ein Telegramm und ich fuhr zu meinem ersten Fotoshooting nach Leipzig. Für die Aufnahmen wurde nicht so ein großer Aufwand betrieben wie heute. Die Moderedakteurin meinte, dass ich eine natürliche Schönheit sei und kein Make-up brauche. Mit einem kleinen Auto ging es mit dem bekannten DDR-Fotografen Günter Rössler und der Redakteurin von Leipzig nach Höfgen. Nach einer Stunde hatten wir alle Fotos im Kasten. Die Bilder kamen so gut an, dass ich sogar auf dem Titelbild landete. Mein erstes Cover! Wie cool! Viel verdient hat man als Model im Übrigen nicht – für das Titelfoto gab gerade einmal 35 Mark. Es war allerdings auch nur ein Nebenjob, der mir aber sehr viel Spaß gemacht hat.
Welche Shootings oder Laufstegmomente sind dir besonders in Erinnerung geblieben?
An mein Safari-Shooting kann ich mich noch sehr gut erinnern. In der DDR waren wir Weltmeister im Improvisieren. Da wir nicht reisen konnten, fand das Shooting auf der Abraumhalde in Bitterfeld statt. Ich stand mit Sonnenhut auf einem staubigen Hügel und blickte sehnsuchtsvoll in die Ferne. Die Fotos wirkten verblüffend authentisch. Für die Outfitwechsel musste ich immer wieder den Berg aus Geröll herabsteigen. Ich puderte kurz mein Gesicht und weiter ging’s für die nächste Aufnahme. Die Fotos gehören mittlerweile zu meinen absoluten Lieblingsbildern.
Wie hat dir die Mode gefallen, die du präsentiert hast?
Die Strickmode hat mir gut gefallen. Ab und zu war natürlich auch mal ein Kleidungsstück dabei, das ich privat nicht angezogen hätte.
Für HEYDAY hast du dich in deiner Heimatstadt Dessau vor dem berühmten Bauhaus fotografieren lassen. Passend dazu präsentierst du Strickmode mit klaren Schnitten und subtilen Farben. Entspricht dies auch deinem persönlichen Stil?
Ja, ich trage auch privat am liebsten lässige und eher puristische Mode. Und da die Designs vom Cashmere-Label Sminfinity vom Bauhausstil inspiriert sind, passen die Looks perfekt zu mir. Bei Events darf es aber auch mal etwas Ausgefalleneres sein. Anlässlich der Duftstars-Verleihung war ich beispielsweise von Kopf bis Fuß mit Blüten eingekleidet.
Ein Teil der Fotos wurde in Wiesbaden geshootet. Als Kulisse diente hier das neu eröffnete Museum Reinhard Ernst. Welche Rolle spielen Kunst und Kreativität in deinem Leben?
Als Fashion-Bloggerin und Fotografin bin ich natürlich auch kunstbegeistert. Es freut mich sehr, dass es nun auch in Wiesbaden ein Museum für abstrakte Kunst gibt. Kreativität ist mir sehr wichtig – und sie hat mir sicherlich auch dazu verholfen, den Sprung vom DDR-Model zur Fotografin zu schaffen. Zwei meiner Fotos wurden sogar bei der Kunstmesse Art Miami in den USA ausgestellt.
Wie bist du deiner neuen Passion hinter der Kamera gekommen?
Durch meine drei Kinder habe ich die Liebe zur Fotografie entdeckt. Sie sind natürlich meine absoluten Lieblingsmotive. Als ich 2010 dann das erste Mal zur Fashion Week nach Berlin eingeladen wurde, habe ich einfach zum Spaß fotografiert. Der damalige Chefredakteur des Wiesbadener Kuriers, Stefan Schröder, hat meine Fotos auf Facebook gesehen und mich gefragt, ob ich für die Verlagsgruppe Rhein-Main als Fashion-Bloggerin und Modeexpertin arbeiten möchte. Das war eine große Ehre und ich habe natürlich direkt zugesagt.
Du bist auf den nationalen und internationalen Fashion Weeks unterwegs und hast schon einige große Namen aus der Modewelt persönlich kennengelernt. Wer hat dich bisher am meisten beeindruckt?
Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Bei meiner ersten Fashion Week in Paris hatte ich das Glück, die Show von Chanel zu sehen und backstage Karl Lagerfeld persönlich kennenzulernen – das war schon eine besondere Ehre. 2014 feierte ich ganz exklusiv mit Jean Paul Gaultier die Eröffnung seiner Ausstellung in London. Jean Paul Gaultier ist das Enfant terrible der Mode, und mich begeistern seine ausgefallenen Kreationen. Anna Wintour, die einflussreichste Persönlichkeit der Modewelt, habe ich auch schon oft persönlich getroffen. Bei der Vogue-Konferenz Fashion of Forces saß ich dann direkt eine Stunde neben ihr und sie berichtete gemeinsam mit Kerstin Weng, der deutschen Chefredakteurin der Vogue, über die Entstehung eines Vogue Covers. Das war ein echter Wow-Moment für mich.
Es ist so cool bei der Fashion Week in Paris, London, Mailand oder New York zu sein. Man weiß nie, was einen erwartet. Es ist wie mit einem Überraschungsei! Das sind so außergewöhnliche Momente, die man nie vergisst. Als ich damals als DDR-Model auf der Abraumhalde in Bitterfeld stand, hätte ich mir niemals träumen lassen, was ich als Fashion-Bloggerin alles erlebe.
Beim Modeln dreht sich fast alles um das Äußere. Das Schönheitsideal ist heute aber zum Glück diverser als noch vor einigen Jahren. Was bedeutet für dich persönlich Schönheit und wie gehst du mit dem Älterwerden um?
Ich finde es richtig gut, dass heute Diversität auf den Laufstegen, in den Modemagazinen und in der Werbung großgeschrieben wird. Früher war man ja mit Mitte zwanzig schon zu alt fürs Modeln. Heute kann man mit Mitte fünfzig für L’Oréal Werbung machen, so wie ich im letzten Jahr. Das ist doch super! Schönheit liegt im Auge des Betrachters und für mich ist alles schön, was man mit Liebe betrachtet. Ich freue mich, älter zu werden und habe damit keine Probleme.
„Als ich damals
als DDR-Model auf der Abraumhalde in Bitterfeld stand, hätte ich mir niemals erträumen lassen, was ich als Fashion-Bloggerin alles erlebe“
Wie hältst du dich körperlich fit und was tust du noch für deine Gesundheit?
Ich bin sehr gern in der Natur und walke jeden Tag eine große Runde im Wald. Außerdem fahre ich viel Fahrrad. Ich achte auf gesunde Ernährung und koche jeden Tag für die Familie. Wenn wir alle gemütlich an einem Tisch zusammensitzen, dann schmeckt das Essen eh am besten.
Seit Kurzem trägst du graue Haare. Wie bist du zu der Entscheidung gekommen und wie fühlst du dich mit deiner neuen Haarfarbe?
Das hat sich während der Corona-Zeit ergeben. Im Lockdown habe ich meine Haare nicht mehr gefärbt. Doch dann kam ein tolles Angebot von L’Oréal von meiner Modelagentur. Da konnte ich nicht nein sagen. Für das Shooting wurden mir die Haare wieder dunkler gefärbt. Doch nachdem das Grau erneut durchschimmerte, entschloss ich mich, meine Haare wieder ganz ergrauen zu lassen. Die Übergangsphase war etwas schwierig, aber jetzt liebe ich meine Silbermähne und bekomme viele Komplimente dafür.
Was hast du in Zukunft geplant? Welche Träume möchtest du dir noch erfüllen?
Mit meiner Familie Zeit zu verbringen und gemeinsam die Welt zu erkunden, das ist für mich das Schönste. Ich hoffe, dass wir alle gesund bleiben. In Bezug auf das Modeln wünsche ich mir, einmal auf dem Cover eines bekannten Fashion Magazins zu sein oder für ein großes Fashion Label zu modeln. Ich träume von einem richtig krassen Fotoshooting mit allem Drum und Dran!
Anja als Model in der DDR
„Für das Titelfoto gab es gerade einmal 35 Mark“
Über die Fotograf:innen
Christina Maria Kossiwakis ist eine aufstrebende Fotografin aus Wiesbaden, die Kommunikationsdesign an der Hochschule RheinMain studiert. Ihre Leidenschaft für die Fotografie entdeckte sie bereits in ihrer Kindheit – inspiriert durch ihre Mutter Anja, die sie schon früh zur Fashion Week begleitete. So kam es auch, dass die japanische Vogue bereits über Christina als jüngste Streetstylefotografin berichtete. Christina hat sich zudem durch kreative Projekte, wie Foto- und Plakatarbeiten für das Museum Wiesbaden, einen Namen gemacht.
Vadym Rybnyi ist professioneller Fotograf und Retuscheur aus der Ukraine, der gezwungenermaßen mit seiner Familie nach Deutschland gezogen ist. Derzeit lebt und arbeitet Vadym in Oldenburg, wo er seine kreativen Projekte vorantreibt und neue Möglichkeiten für künstlerischen Ausdrucks sucht, vor allem im Bereich der Modefotografie. Sein Ziel ist es, nicht nur Fotos zu schießen, sondern Werke zu kreieren, die Emotionen und Momente festhalten und die Herzen der Betrachter berühren.