Während Corona haben wir die einfachste Form der Fortbewegung wiederentdeckt: das Spazierengehen. Warum es uns oft schwer fällt, es sich aber dennoch lohnt, einfach mal absichtslos loszugehen, verrät uns Prof. Martin Schmitz
von Annagenia Jacob
Einfach absichtslos durch die Stadt flanieren und die Umgebung bewusst wahrnehmen – d iese Fähigkeit haben wir im Zuge der Digitalisierung und des technischen Fortschritts verlernt.
Foto: Gramparents
Einfach so spazierengehen – ganz gemütlich, ohne Ziel und ohne Zeitlimit. Das ist für viele von uns gar nicht so einfach. Denn in Zeiten von Flieger, SUV, E-Bike und totaler Reizüberflutung haben wir verlernt, was für ältere Generationen ganz normal ist: langsam zu gehen. Doch die Corona-Pandemie hat uns gezeigt, dass das Spazierengehen nicht zu unterschätzen ist. Denn es ist einfach umzusetzen und tut nicht nur unseren müden Knochen, sondern auch dem Geist gut. Schon die alten Römer waren große Meister des Flanierens. Auch Goethe, Schiller und andere Dichter und Denker beschrieben den Spaziergang als belebend und schöpferisch inspirierend. „Sobald sich meine Beine bewegen, beginnen meine Gedanken zu fließen“, erkannte der amerikanische Schriftsteller Henry David Thoreau im 19. Jahrhundert.
„Die meisten Leute kennen sich auf Mallorca besser aus, als in ihrem eigenen Umfeld“
Prof. Martin Schmitz
Kurz mal frische Luft holen, abschalten, sich bewegen und andere Eindrücke sammeln – ohne die Runde um den Block wären viele von uns in den letzten Monaten wohl aufgeschmissen gewesen. Doch warum müssen wir erst so stark in unserer Mobilität eingeschränkt sein, um die Lust am langsamen Gehen wiederzuentdecken? Der technische Fortschritt hat nicht nur unser Alltag beschleunigt, sondern auch unsere Wahrnehmung. Die Folge: Wir haben uns von unserer Umwelt entfremdet. „Die meisten Leute kennen sich auf Mallorca besser aus, als in ihrem eigenen Umfeld“, meint Prof. Martin Schmitz. Der Spaziergangswissenschaftler sieht in der momentanen Situation eine positive Veränderung: „Die Menschen setzen sich wieder intensiver mit ihrer unmittelbaren Umgebung auseinander“. Denn neben den vielen positiven Effekten auf Körper und Geist liegt im Spazierengehen, der langsamsten Form der Fortbewegung, eine unterschätzte Kraft: die Schärfung unserer Wahrnehmung. Indem wir unsere Umwelt intensiv wahrnehmen, wird uns bewusst, wie wir diese gestalten wollen. Durch die eigene körperliche Bewegung können wir Räume überhaupt erst erfahren und erfassen. „Je genauer und intensiver man etwas wahrnimmt, umso besser kann man es auch gestalten“, sagt Prof. Schmitz.
Mit der Wissenschaft des Spazierengehens, der Promenadologie, beschäftigt sich Prof. Martin Schmitz seit seinem Studium bei Lucius Burkhardt. Der Schweizer Soziologe und Urbanismuskritiker ist der Begründer der Promenadologie. Er machte auf die Zusammenhänge aufmerksam, die er zwischen Gestaltung, Wahrnehmung, Geschwindigkeit und Mobilität erkannte. Auch definierte er „Landschaft“ als einen erlernten und konstruierten Begriff in unseren Köpfen. Er erkannte, dass wir durch die fast grenzenlose Mobilität einer noch nie da gewesenen Informationsflut ausgesetzt sind. Diese verleitet uns dazu, nicht mehr richtig hinzuschauen. Erst durch das körperliche Erfahren der Umwelt und das genaue Betrachten können sich Bilder und Vorstellungen aufbrechen und verändern. Hierbei hilft es sich selbst zu fragen: Warum empfind ich diese Landschaft als schön oder warum nicht?
„Spazierengehen kann fast jeder. Die einzige Regel, die es gibt ist: gehen.“
Selbst nach elf Jahren des Spazierengehens um die Gegend des Oranienplatzes in Berlin entdeckt Prof. Martin Schmitz immer wieder neue Dinge, die er vorher nicht gesehen hat. „Ein Spaziergang ist immer ein Unikat. Man kann zwar die gleiche Strecke gehen, aber irgendetwas hat sich dann doch wieder verändert. Alleine die Menschen, die man beim Spazierengehen beobachten kann, ändern sich ja jedes Mal,” merkt er an.
Das Tolle ist: Spazierengehen kann fast jede*r. „Die einzige Regel, die es gibt ist: gehen“, sagt Prof. Schmitz und lacht. Das zeigt uns, dass in banalen und alltäglichen Dingen ungeahnte Schätze liegen. Schmitz betont zuletzt noch einmal das Wort „absichtslos“. Wir leben in einer Welt, in der alles eine Funktion, einen Sinn und einen Zweck haben muss. Ein absichtsloser Spaziergang kann sich erst einmal ungewohnt anfühlen, aber er lohnt sich.
Heute wird die einfachste Form der Fortbewegung gefeiert – mit dem „Mach-einen-Spaziergang-im-Park-Tag”. Passend dazu haben wir hier noch ein paar Gründe, warum wir wieder mehr spazierengehen sollten.
„Ein Spaziergang ist immer ein Unikat. Man kann zwar die gleiche Strecke gehen, aber irgendetwas hat sich dann doch wieder verändert. Alleine die Menschen, die man beim Spazierengehen beobachten kann, ändern sich jedes Mal.“
18 GRÜNDE…
warum wir öfter einfach mal spazierengehen sollten
- Günstig und einfach umsetzbar. Man braucht nur bequeme Kleidung und gutes Schuhwerk
- Zu jeder Tages- und Nachtzeit und bei jedem Wetter möglich
- Setzt keine spezielle körperliche Fitness voraus
- Man kann das Spazierengehen bis ins hohe Alter durchführen
- Das Sonnenlicht kurbelt die Bildung von Vitamin D im Körper an, das für die Knochengesundheit, die Muskelkraft und unser Wohlbefinden wichtig ist
- Senkt den Blutdruck, wirkt entspannend und reduziert das Stresslevel
- Löst Verspannungen, vor allem an Rücken und Schultern
- Stärkt den Kreislauf
- Verbessert die Ausdauer
- Der Sauerstoff verbessert die Durchblutungsleistung des Gehirns und steigert die Konzentration
- Stärkt das Immunsystem und verbessert die Krankheitsabwehrmechanismen
- Verbrennt Energie und regt die Verdauung an
- Stabilisiert den Körper und mindert die Sturzgefahr
- Der Rhythmus des Gehens regt einen besonderen Rhythmus des Denkens an
- Sorgt für erholsamen Schlaf
- Sorgt für die Ausschüttung des Glückshormons Serotonin und macht somit gute Laune
- Kann Demenz vorbeugen und lindern
- Wirkt sich positiv bei psychischen Krankheiten aus
Über Martin Schmitz
Prof. Martin Schmitz, geboren 1956, arbeitet als Verleger und lehrt als Professor im Fachbereich Design an der Kunsthochschule in Kassel. 1976 studierte er ebendort Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung. Er hat sich eingängig mit der Lehre und Forschung von Lucius Burckhardt, Schweizer Soziologe und Urbanismuskritiker, auseinandergesetzt, der als Begründer der Spaziergangswissenschaften (Promenadologie) gilt. Nach dem Tod von Lucius Burckhardt 2003, begann Martin Schmitz die gesamte Bibliographie Burckhardts zusammenzustellen und seinen Nachlass zu verwalten. Neben Burkhardts Werken, wie dem Buch „Warum ist Landschaft schön?“, sind diverse weitere Bücher verschiedener Autoren zu den Themen Architektur, Kunst, Film, Design, Musik und Literatur im Martin Schmitz Verlag vertreten. So beispielsweise Werke des bekannten Filmregisseurs, Autors und Aktivists Rosa von Praunheim oder die Autobiografie der kürzlich verstorbenen Sängerin und Schlagzeugerin des Duos Stereo Total Francoise Cactus. Zu Prof. Martin Schmitzs Webseite geht es HIER.