Gastbeitrag: Über das Daheimbleiben in diesen verrückten Zeiten

HEYDAY-Leserin Andrea Scheurer liebt es, ihre Gedanken und Emotionen niederzuschreiben. Die 55-Jährige, die voller Neugierde und stets auf der Suche nach Abenteuern ist, beschreibt in ihrer Geschichte, wie sie die ausgebremsten Zeiten des Corona-Lockdowns erlebt. Eine Situation, die gerade so gar nicht zu ihrem Lebensmotto passt

Foto: Manuel Peris Tirado/ Unsplash

An einem Wochenende im November liege ich in unserem Wohnzimmer auf dem Sofa, mein neues Tablet in der Hand, und will gerade bei einer Urlaubsbuchungsapp einen Zeitraum für eine Reise eingeben. „Meinst du im Oktober nächsten Jahres kann ich wieder auf die Kanaren?“, frage ich meinen Mann. Der zuckt mit den Schultern und erinnert mich daran, dass ich doch die Zuversichtliche von uns beiden bin. Ich gebe ihm also Recht und entscheide mich für Dezember 2021. Funktioniert aber nicht, da die App nur Buchungen zulässt, die sich innerhalb eines Jahres befinden. Ich überlege, ob ich eine andere App ausprobiere, entscheide mich dann aber, mich um die Bügelwäsche zu kümmern. „Nein!“, ruft mein Mann, der seit April freigestellt ist, und bittet mich, ihm den Wäschestapel für nächste Woche zu überlassen, damit, wie er meint, er etwas zu tun habe. Wir knobeln darum. Er gewinnt. Und ich weiß, nächste Woche werde ich sogar gebügelte Unterwäsche haben.

„Homeoffice ist nicht meine Sache, denn mein Zuhause ist der Ort, an dem ich mich erhole – da hat Arbeit nichts verloren”

Eine Szene wie diese, hat sich bei uns zu Hause so oder so ähnlich schon unzählige Male abgespielt (und ja, mein Mann bügelt tatsächlich; er putzt auch die Fenster und die Wohnung. Und nein, ich verleihe ihn nicht). Nun befinden wir uns wieder in einem Lockdown und üben uns in „the same procedure as last year“. Der Lockdown des vergangenen Jahres versetzte mich zunächst in eine Art Schockstarre. Ich war erschrocken darüber, wie leer meine Stadt plötzlich war, wie wenig Menschen mir auf dem Weg zur Arbeit begegneten. Ich witterte das Virus in jedem, der mir auf der Straße entgegenkam, und ertappte mich dabei, wie meine Füße nach links oder nach rechts auswichen, und ich somit um jeden einen Bogen machte. Ich stelle fest, dass diese Panik inzwischen verschwunden ist. Ob das gut ist oder nicht, will ich nicht bewerten; angstfreier zu sein fühlt sich zumindest gut an. Mittlerweile erfolgt mein Abstandhalten, Masketragen etc. aus rationalen und nicht aus emotionalen Gründen. Das ist ein Unterschied. Ansonsten wiederholen sich viele Gegebenheiten aus dem vergangenen Jahr.

Wie im ersten Lockdown auch, befinde ich mich tagsüber alleine im Büro. Meinen Weg zur Arbeit lege ich entweder mit dem Auto zurück, was mich einerseits entspannt, anderseits jedoch stresst, da ich nicht gerne Auto fahre. Fahre ich mit den Öffis zur Arbeit, muss ich zwar nicht selbst fahren, trage dann allerdings eine FFP2-Maske, suche mir stets einen Platz, der weit genug weg ist von den anderen Fahrgästen, und wünsche mir während der gesamten Fahrt inständig, dass doch der Busfahrer möglichst alle Fenster öffnet. Somit bin ich meist schon nicht mehr entspannt, wenn ich im Büro ankomme. Andererseits ist Homeoffice nicht meine Sache, denn mein Zuhause ist der Ort, an dem ich mich erhole; da hat Arbeit nichts verloren. So habe ich die Wahl zwischen Pest und Cholera und fahre jeden Tag mit dem Bus zur Arbeit, hoffend, dass sich die Mitfahrenden, die immer dieselben sind, möglichst auch an alle Empfehlungen halten und auf sich und andere achten.

„Mittlerweile erfolgt mein Abstandhalten, Masketragen etc. aus rationalen und nicht aus emotionalen Gründen. Das ist ein Unterschied.”

Und wie bereits im ersten Lockdown verbringen mein Mann und ich unsere gemeinsame Zeit so, dass sie nicht allzu gemeinsam ist. Will heißen, wir unternehmen getrennt voneinander Dinge in der Wohnung ohne den anderen. Wenn ich von der Arbeit komme, sportelt mein Mann in seinem Zimmer und ich schaue TV im Wohnzimmer. Hat mein Mann seine Trainingseinheiten beendet und kommt ins Wohnzimmer, bin ich schon bald so müde, dass ich ins Bett gehe, während er noch fernsieht. An den Wochenenden unternehmen wir gemeinsam Spaziergänge in die Umgebung. Das Kochen ist mein Job, bei dem ich niemanden dabeihaben möchte, weil ich währenddessen Krimis aus irgendwelchen Mediatheken schaue. Na, ja, nicht wirklich schaue; schließlich bin ich auf’s Kartoffelschälen oder Salatputzen konzentriert. Meine kontemplativen Tätigkeiten werden häufig nur durch das ungeduldige und hungrige Mauzen unserer Katze unterbrochen.

Im ersten Lockdown haben wir zu Beginn noch den ein oder anderen Sonntag gemeinsam auf unserem Motorrad verbracht und schauten uns die Umgebung an. Dies hat uns einen Hauch von Normalität vermittelt. Da die Straßen meist leer waren und wir zu den Blümchenpflückern gehören, haben wir diese Ausfahrten nahezu gedankenlos gemacht. Den Hinweis zu Hause zu bleiben, nahmen wir insofern ernst, als dass wir Kontakt zu anderen Menschen vermieden und auf Abstand blieben. Dass man auch zuhause bleiben sollte, um Unfällen aus dem Weg zu gehen, hatten wir nicht wirklich auf dem Schirm. Aber wir sind lernfähig und waren irgendwann zufrieden, unsere Umgebung zu Fuß anzuschauen. Ist das Wetter uns nicht komfortabel genug, bleiben wir drin. Ich habe meine Liebe zu 1000-teiligen Puzzlen neu entdeckt. Aber auch das Schreiben entspannt mich. Mein Mann liest oder ist draußen in seiner Garage. 

Es gab letztes Jahr im Sommer eine Phase, da blühte das Leben wieder auf, da waren sogar Chor- und Orchesterproben im Freien möglich. Das fühlte sich toll an. Auch Urlaub war möglich. Ich nutzte die Möglichkeit und fuhr mit einer Freundin in die Lüneburger Heide. Da wir uns beide vorher haben testen lassen, war es für mich akzeptabel, mit einem Menschen, der nicht zu meiner „Infektionsgruppe“ gehörte, Zeit auf relativ engem Raum zu verbringen. In unserem Urlaubsdorf hatten wir die Gelegenheit, eines Abends bei der Probe eines Blasorchesters dabei zu sein. Das hatte etwas sehr Berührendes, da diese zu den letzten Laien-Musikern gehörten, die ihre Proben wiederaufnehmen durften. Da lag in jeder Melodie unglaublich viel Begeisterung und Gefühl, und selbst mit Abstand war den Musikerinnen und Musikern ihre Freude darüber, wieder spielen zu dürfen und können, anzusehen. Ein ganz besonderes Erlebnis.

„Ich habe festgestellt, dass gerade die „kleinen“ Erlebnisse sind, die mich besonders erfreuen, und aus denen ich neue Energie schöpfe”

Ich habe festgestellt, dass gerade diese „kleinen“ Erlebnisse die sind, die mich besonders erfreuen, und aus denen ich neue Energie schöpfe. Ebenso wie zufälliges Kennenlernen fremder Menschen, mit denen man dann plötzlich an einem Abend im Freien auf Abstand an einem sehr großen Tisch landet, vertraut miteinander Begebenheiten und Anekdoten austauscht und sich für ein Wiedersehen verabredet – zu einem Zeitpunkt, der so fern scheint, weil er nur über einen Zustand zu beschreiben ist und nicht mit einem Termin benannt werden kann. „Wenn die Zeiten wieder besser sind“ – das ist irgendwie zu einem geflügelten Wort geworden. Und immer, wenn ich diesen Ausdruck verwende, werde ich etwas wehmütig; ich spüre, wie es mir eng um‘s Herz wird und muss fast weinen. Dann fühle ich, wie besonders diese verrückte Zeit ist, und hoffe, dass wir es hinkriegen, wieder eine Art von Normalzustand herzustellen.

Der Übergang vom Lockdown-Light in einen harten Lockdown mit strengen Ausgangsbeschränkungen wird bei mir nicht viel ändern. Ich werde mir im Online-Handel ein weiteres 1000teiliges Puzzle bestellen, das ich dann innerhalb weniger Wochenenden zusammensetze. Mein Mann wird es zu den anderen im Hausflur hängen, worüber ich den Kopf schüttele, weil das für mich der Inbegriff von Spießigkeit ist. Und dann werden wir beide darüber lachen und darauf hoffen, dass wir eines Tages beide wieder auf dem Motorrad fremde Länder anschauen können und ich über eine Buchungsapp meinen nächsten Urlaub auf den Kanaren planen kann.


Andrea Scheurer Heyday Gastbeitrag

HEYDAY-Leserin Andrea Scheurer (55) arbeitet hauptberuflich als Teamleiterin und unterstützt Menschen bei der Arbeitssuche. Nebenberuflich führt Andrea, die mit ihrem Mann und einer Katze auf dem Land lebt, als Tourguide Gäste auf Pfaden abseits vom Mainstream durch ihre Heimatstadt. Auch sonst bewegt sie sich gerne auf neuen Wegen: Mit über 50 hat sie zum ersten Mal einen Kurs für Pole-Dance besucht, stand auf einem Surfbrett und probierte Apnoe-Tauchen aus. Ihre Erlebnisse und Erfahrungen nennt sie „kleine Abenteuer“, ihre Lebenseinstellung ist geprägt von Zuversicht und einem Blick für Details – das zeigen auch auf ihre Fotos, die sie bei Instagram veröffentlicht.

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