Als Teenager ist Anne Hehl (46) an einer Bulimie erkrankt. Über 15 Jahre lang verheimlichte sie diese Krankheit – nicht nur vor ihrem Umfeld, sondern vor allem auch vor sich selbst. Doch am Ende fand sie einen Weg der Selbstheilung, der auch für andere gangbar ist. Heute begleitet Anne als Coach, Gesprächs- und Hypnotherapeutin Menschen dabei, all das anzunehmen, was sie ausmacht – und ihre ganz individuelle Version eines gesunden, erfüllten und zufriedenen Lebens zu leben
Erst mit Anfang 30 begann Anne damit, sich mit ihrer bereits rund zwei Jahrzehnte lang bestehenden Essstörung auseinanderzusetzen – und sie schaffte es endlich, sich anderen anzuvertrauen. Wie es dazu kam, warum dies so ein wichtiger Schritt für den Umgang mit ihrer Erkrankung war, und wie sie das Konzept Heilung für sich neu interpretiert hat – das teilt Anne hier ganz offen und tabulos mit uns auf HEYDAY…
Ich liege auf meinem Bett und starre an die Decke. Mein Herz pocht wie wild und kann sich nur langsam beruhigen. Mir steht kalter Schweiß auf der Stirn. Ich bin so müde und unendlich erschöpft. Ich möchte unter die Decke kriechen, aber ich schaffe es nicht, mich zu bewegen. Es fühlt sich an, als wäre alle Energie aus mir rausgeflossen … wenn man es genau nimmt … ich habe sie ausgekotzt.“ So oder so ähnlich endeten unzählige Tage, wenn ich fix und fertig vom Erbrechen ins Bett fiel.
Was als Teenie in den 90ern – der Zeit der Magermodels – als Mittel zum Dünnsein begann,
entwickelte sich schnell zum Stressbewältigungsmechanismus. All das, was ich den Tag über an Reizüberflutung, Leistungsdruck, Konfliktsituationen in mich aufgenommen hatte, all die damit einhergehenden Selbstzweifel und das Gefühl, ein complete fail zu sein, habe ich vor dem Zubettgehen zusammen mit dem Mageninhalt der Kloschüssel übergeben. Ich habe den Tag ausgekotzt – über viele, viele Jahre lang fast täglich.
Natürlich gab es auch Zeiten, in denen die Bulimie nicht symptomatisch war, aber über sehr lange Phasen war die Krankheit extrem ausgeprägt. Und all die Zeit über habe ich einfach so getan, als wäre nichts, als wäre alles in bester Ordnung. Auch mir selbst habe ich das vorgegaukelt.
Erst mit Anfang 30, als nach der Trennung vom Vater meiner Tochter die Essstörung einen ihrer Höhepunkte erreichte, ging mir das Licht auf, dass „etwas“ nicht in Ordnung ist. Es hat mich immens viel Überwindung gekostet, mir selbst einzugestehen, dass ich eine Essstörung habe und Hilfe brauche. Nach einigem inneren Hin und Her suchte ich mir (und fand nach mehreren Anläufen) einen Therapieplatz. Meine Therapeutin war – fast 20 Jahre nach dem die Essstörung begann – der erste Mensch, mit dem ich offen und schonungslos über meine Erkrankung sprach. Dies mit jemandem zu teilen hat mir unglaubliche Erleichterung gebracht und für mich die Tür in Richtung Heilung aufgestoßen.
Nach und nach vertraute ich mich auch engen Freundinnen an. Leicht ist mir das wirklich nicht gefallen, denn ich habe mich unglaublich geschämt. Aber ich wusste auch, dass ich meine Erkrankung nicht länger als Geheimnis mit mir herumtragen kann.
Das muss weg!
Ich startete meinen Heilungsweg mit dem Ziel: „Das (die Bulimie) muss weg!“. Mit dieser Agenda fand ich mich über drei Jahre lang zweimal im Monat in der Praxis meiner Verhaltenstherapeutin ein. Ich besuchte Kurse zu Stressmanagement und Achtsamkeitstraining, ging unzählige Male zum Yoga, meditierte, atmete und tat auch sonst alles, was mir vor die Füße fiel, um mich von diesem Übel zu befreien. Einige Male war ich sogar überzeugt, die Krankheit sei verschwunden und ich somit geheilt – und landete dann von Neuem auf dem harten Boden der Tatsachen, sprich dem harten Badezimmerfußboden vor der Toilette, wenn die Bulimie wieder symptomatisch wurde.
Trotzdem blieb ich hartnäckig: Mit eisernem Willen und offen gesagt viel zu verbissen, krempelte ich mein ganzes Leben um. Was mit einer ersten Ausbildung als Yogalehrerin begann, führte zu einer ganzen Arie an Ausbildungen aus dem Spektrum von Yoga, Psychotherapie und Coaching. Und immer noch wartete ich darauf, dass die Krankheit verschwindet. Zwar wurden die Phasen, in denen ich mich regelmäßig erbrach, seltener, weniger heftig und weniger lang. Aber immer noch war mein Ziel: „Das muss weg!“ Das passierte aber einfach nicht, zumindest nicht dauerhaft. Ich wurde ganz schön ungeduldig mit mir und noch verkrampfter in meinen Heilungsbemühungen.
Long story short: Aller Härte, Verbissenheit und Disziplin zum Trotz hatte ich damit keinen nachhaltigen Erfolg, und ich denke heute, dass das sogar daran lag, dass ich es so unbedingt wollte.
Die Wächterin
Erst vor ein paar Jahren veränderte sich etwas: Ich „arbeitete“ schon lange regelmäßig mit meinem inneren Team. Über die Jahre ist aus den verschiedenen Anteilen meiner Psyche (das innere Kind, das erwachsene und das zukünftige Ich, das höhere Selbst, die innere Kritikerin & Co.) eine illustre Runde entstanden. Irgendwann gesellte sich in einer Meditation zu diesem bunten Trüppchen eine neue Gestalt hinzu: Es war meine Bulimie.
Zunächst war ich natürlich not at all amused über diesen ungeladenen Gast. Dann habe ich verstanden: Sie ist nicht als Bedrohung da, ihre Aufgabe ist es nicht, mir das Leben schwer zu machen. Ganz im Gegenteil: Ihre Aufgabe ist es, mir zu zeigen, wann ich mir selbst das Leben schwer mache.
„Heilung heißt für mich nicht mehr, die Krankheit loszuwerden. Heilung heißt für mich, sie anzunehmen als einen Teil von mir, der mir etwas über mich kundtut”
Ein paar Anlaufschwierigkeiten hatten wir schon, aber mittlerweile nenne ich die Bulimie meine Wächterin. Die vielen Jahre der Auseinandersetzung mit mir selbst – Yoga, Meditation, Achtsamkeit, Therapie etc. – haben mir ein gutes Gespür für meine Befindlichkeiten gegeben. Nicht immer, aber fast immer erkenne ich, wenn meine Wächterin (die sonst still und leise in der Ecke sitzt) aufsteht – das bedeutet, dass sich eine symptomatische Phase der Bulimie ankündigt. In den allermeisten Fällen weiß ich dann, was zu tun ist, sodass die Wächterin sich wieder hinsetzen kann. Nur ganz selten, wenn das Leben zu schnell und zu laut wird, die Herausforderungen zu groß sind und ich zu wenig bei mir bin – dann bleibt sie stehen und nimmt mich in den Würgegriff. Dann bricht die Krankheit wieder aus … bis ich ihre Botschaft verstehe.
Rückblende in die Vergangenheit: Anne an ihrem 18. und 30. Geburtstag
Heilung heißt Akzeptanz
Das Konzept „Heilung“ habe ich für mich neu interpretiert. Heilung heißt für mich nicht mehr, die Krankheit loszuwerden. Heilung heißt für mich, sie anzunehmen als einen Teil von mir. Als einen Teil von mir, der mir etwas über mich mitteilt. Heilung heißt für mich, meine eigenen Spielregeln zu kennen, die – wenn ich mich an sie halte – dafür sorgen, dass es mir gut geht. Wenn ich gut zu mir bin, dann schlummert die Krankheit friedlich vor sich hin. Hoffentlich für immer. Ich ringe nicht mehr mit mir selbst, ich kämpfe nicht mehr gegen die Bulimie, ich umarme sie, als das, was sie für mich ist: meine Wächterin.
Wir alle tragen diese Wächter:innen in uns. Natürlich nicht immer in Form einer Bulimie, nicht mal unbedingt überhaupt in einer pathologischen Erscheinungsform. Unser Körper und unsere Psyche sprechen zu uns. Ich möchte Dich ermutigen, zuzuhören. Und ich möchte Dich ermutigen, Dich mitzuteilen, Dir Hilfe zu holen und Schamgefühle und Angst vor Stigmatisierung über Bord zu werfen. Ich habe nur in den allerwenigsten Fällen Ablehnung erfahren, als ich begann, offen über meine Krankheit zu sprechen. Und ehrlich gesagt, konnte ich diese ablehnenden Zeitgenossen auch in der Pfeife rauchen.
ANNES IMPULSE FÜR DEINEN WEG ZUR HEILUNG
Wegschauen und Augen schließen hilft nicht. So tun als ob auch nicht. Genauso wenig wie verschweigen. Hinschauen kostet Mut, und darüber sprechen auch. Aber es lohnt sich. Dies waren die größten Turning Points auf meinem Weg zu Heilung, und ich möchte sie hier mit Dir teilen – in der Hoffnung, dass sie Dir hilfreiche Denkanstöße sind
- IT’S OKAY NOT TO BE OKAY – Gestehe Dir ein, dass etwas nicht in Ordnung ist, und gestehe Dir zu, dass dies so sein darf
- KEINE ANGST VOR STIGMA – Vertraue Dich anderen an. Du musst da nicht allein durch. Suche Dir gezielt Menschen, die Dir zur Seite stehen
- LISTEN TO YOUR BODY & SOUL – Erkenne die Krankheit und ihre Symptome bzw.
Signale von Körper und Psyche als das an, was sie sind: Botschaften, die Dir sagen, dass Du mehr auf Dich achten musst
- TU DIR GUT(ES) – Nutze die Botschaften, um Deine ganz persönlichen Spielregeln zu erkennen, die Dir ein zufriedenes, gesundes und erfülltes Leben ermöglichen
- ES IST NIE ZU SPÄT – Egal, wann Du anfängst, egal, wie lange es dauert
- DON’T FIGHT – Sei nachsichtig, liebevoll und sanft mit Dir auf Deinem Weg zur Heilung
Anmerkung: Dies ist mein ganz eigener Heilungsweg und meine ganz persönliche Interpretation von Heilung. In meiner Arbeit als Coach und Heilpraktikerin für Psychotherapie erlebe ich, dass dieser Weg auch für viele andere Menschen stimmig ist. Das muss aber nicht so sein. So wie jede Krankheit individuell ist, ist es auch jeder Heilungsweg. Erlaube Dir, Deinen eigenen Weg zu finden.
Über Anne Hehl
Anne Hehl ist Mental-Health-Expertin und lebt in Hamburg. Als Coach und Heilpraktikerin für Psychotherapie begleitet sie in ihrer Praxis für gesunde Individualität Frauen dabei, ihr Leben so zu gestalten, dass sie gesund und fröhlich, kraftvoll und ausgeglichen, zufrieden und erfüllt sind.
Dies ist auch die Mission ihrer Yoga-Angebote: In wöchentlichen Yoga-Klassen, Workshops und auf Yoga-Reisen schafft sie Räume, die einladen – zum Loslassen und Aufladen, zum Bei-sich-selbst-ankommen. In der Arbeit mit ihren Klientinnen greift Anne auch auf die Erfahrungen aus ihrer eigenen Vita zurück, denn viele der Themen, mit denen die Frauen zu ihr kommen (wie Stress und Stressfolgen, Trennung, Zerrissenheit als Working Mom, emotionales Essen und Essstörungen) hat Anne selbst erlebt.
Überdies hostet Anne die Veranstaltungen der Frauen-Community Women’s Hub in Hamburg.