Eine 60-jährige Transfrau und Berliner Aktivistin reißt Mauern ein und baut Brücken: Die gelernte Juristin Dr. Michaela Dudley – auch bekannt als Diva in Diversity – ist Kabarettistin, Kolumnistin und Keynote-Rednerin, zudem berät sie führende Unternehmen bei Fragen zur Gleichberechtigung. HEYDAY wollte wissen, wie sie zu dieser vielseitigen und tonangebenden Persönlichkeit wurde
HEYDAY: Liebe Michaela, was war der erste Berufswunsch, an den du dich erinnerst?
Dr. Michaela Dudley: 1969 habe ich auf unserem ersten Farbfernseher die Mondlandung miterlebt. Also wollte ich unbedingt in den Weltraum. Gerade als queeres Kind, hin und weg. The sky is the limit. Bis heute liebe ich die Astrophysik. Allerdings habe ich längst begriffen, dass sich die Erde schon im Weltall befindet. Einige heutige Multimilliardäre, die es wissen wollen, müssten es noch lernen, nicht wahr? Immerhin hat mich die Muse geküsst. Schon als Teenager in den USA schrieb ich meine eigenen Lieder und Geschichten. Und ich nahm schon Kurs auf das Meer. Gedanklich, aber auch gegenständlich.
Den Traum hast du dir dann ja auch erstmal erfüllt...
Ich musste einfach raus aus der Besenkammer. Also habe ich mit 17 die Seeoffiziersausbildung in der Nähe von San Francisco begonnen. Aber auch da habe ich mich gefragt: Bist du wirklich so frei, wie du gerne sein möchtest? Was sagt mein innerer Kompass? Was ist der richtige Kurs für mich? So bin ich dann zur See gefahren. Das war sehr befreiend. Du bist ganz weit draußen auf dem offenen Meer, du siehst Sterne, die du vom Land aus nie sehen kannst. Es ist zum einen dieses Unendliche und zum anderen das Unerreichbare, das mich daran faszinierte. Also fragte ich mich wieder, was ist meine Rolle hier?
Und hast du sie gefunden?
Das hat noch Jahre gedauert. Ich war von Anfang an marginalisiert. Schließlich habe ich mich in Etappen zu meinem queeren Dasein bekannt, und das auch bereitwillig akzeptiert – wenngleich ich es taktisch und strategisch verheimlichte. Im Laufe der Jahrzehnte habe ich realisiert, dass wir Menschen alle Eintagsfliegen sind. Aber wenn du eine Eintagsfliege bist, dann zählt jede Sekunde. Da obliegt es uns, diesem kleinen Leben eine Signifikanz zu bescheren. Das können wir erreichen, indem wir frei sind, frei denken können. Wenn wir solidarisch sind, wenn Fleiß belohnt wird und wenn den Marginalisierten geholfen wird.
Du hast dich eben als queeres Kind bezeichnet. Wie alt warst du, als dir das bewusst wurde?
Das war im Sommer 1969. Viele denken an 68, das war auch ein sehr schicksalhaftes Jahr, aber 69… Ich wuchs in einer Zeit auf, in der scheinbar die ganze Welt auf der Straße war. Gegen den Vietnamkrieg, für Frauenrechte, für die Umwelt, es gab Woodstock und die Mondlandung. Und es schien als gäbe es nach oben hin keine Grenzen. Aber es passierte auch eine komische Sache, die ich im Fernsehen gesehen hatte, ein Aufstand in Greenwich Village.
Stonewall?
Genau. Danach habe ich meine erstaunlich weltoffene Oma gefragt, was die Worte homosexuell und transsexuell bedeuten. Und sie hat es mir ziemlich jugendgerecht erklärt. Ich fand es sehr interessant, obwohl ich noch in der Präpubertät steckte – knapp acht Jahre alt. Aber ich merkte schon, dass ich anders war. Ich habe gerne feminine Kleidung getragen und zuhause meine eigenen Stageshows gespielt. Ich habe Judy Garland sehr gemocht – im Sommer 1969 ist sie gestorben. Sie wurde dann zu Grabe getragen und in New York gefeiert, denn Judy Garland war auch Ikone der Gay Community. Als wenige Tage später Stonewall ausbrach, fragte ich, warum diese Menschen verhaftet werden. Und ich erkannte: Es gibt andere Menschen, die so sind wie ich, auch ältere Menschen, die frei leben. Nicht ganz acht Jahre alt hoffte ich, dass ich eines Tages auf offener Straße herumlaufen konnte, wie ich wirklich wollte.
Das war auch die Sternstunde von Marsha P. Johnson, der schwarzen Transfrau, die den ersten Stein von Stonewall warf und den Aufstand anfeuerte. Zu ihrem 75. Geburtstag im August 2020 widmete ich ihr mein Lied „Ode to Marsha“ in der Kulturzeit im 3Sat-Fernsehen. Sie ist bereits 1992 unter fragwürdigen Umständen gestorben, aber ihre Seele währt fort.
Das waren immerhin die 60er Jahre. Du konntest als queere Person nicht einfach so auf offener Straße herumlaufen, ohne angefeindet zu werden. Teilweise habe ich es also verheimlicht. Nicht aus Schamgefühl, sondern aus einem Schutzbedürfnis heraus. Zehn Jahre später war ich das erste Mal bei einer Pride Parade, in San Francisco. Harvey Milk, der Gay Rights Activist, war erschossen worden. Dann kam auch noch der Ausbruch der AIDS-Krise. Es schien, als gäbe es immer irgendwo eine Herdstelle auf diesem Planeten, und ich war genau zu der Zeit da.
Nachdem du zur See gefahren bist, folgte ein Jura-Studium, letztendlich hast du dich aber für andere Wege entschieden. Wie kam es dazu?
Während des Studiums habe ich gemerkt, dass das Verfassungsrecht zwar von der Würde des Menschen spricht – toll –, aber in der Realität sieht das anders aus. Da haben Frauen nicht alle Rechte. Schwule und Lesben haben kaum Rechte. Schwarze, kaum Rechte. Das ist die Realität. Nach dem Jurastudium habe ich mich gefragt: Will ich mich zu den Richter:innen und Henker:innen gesellen oder zu den Dichter:innen und Denker:innen? Ich habe die Dichter- und Denker:innen gewählt. Und so habe ich mich dazu entschieden, journalistisch und künstlerisch tätig zu sein.
Ich hatte zwar ein paar Jahrzehnte gebraucht, um zu merken, dass es das ist, was ich machen will. Aber schließlich war ich überzeugt, dass ich so mehr erreichen kann – als Kolumnistin, als Kabarettistin. Im Journalismus, in meinen Kolumnen, habe ich die Möglichkeit auf schlechte Zustände, auf Ungerechtigkeiten hinzuweisen. Und mit der Kleinkunst habe ich noch mehr Spielraum, diese Sachen anzuprangern. Auf der Kleinkunstbühne und im Fernsehen darf ich die wütende schwarze Frau spielen, und ich kann Gerechtigkeit so prägen, wie ich will. Viele fragen mich: „Michaela, du bist Transfrau, du bist Schwarz, du bist Feministin – so wie kommt es dazu, dass du ausgerechnet eine Domina mit Peitsche spielst? Ist das nicht die Fortsetzung der Vorurteile, der Stereotypisierung, der Sexualisierung?“ Meine Antwort ist dann: „Ich drehe den Spieß um, sowieso als Domina teil ich aus, nach links, nach rechts, kreuz, quer und queer durch die Mitte. Auch mit Selbstironie. Mein Kabarettprogramm heißt: „Eine eingefleischt vegane Domina zieht vom Leder“. Ich lebe tatsächlich vegan, meine fleischlichen Gelüste spielen sich auf anderer Ebene ab.
Ich bin eine Frau ohne Menstruationshintergrund aber mit Herzblut, in der Regel. Das ist mein Signature-Spruch. Ich forciere, dass die Leute über Sachen nachdenken, auf eine Weise, wie ich es nicht in den Kolumnen machen kann oder nicht machen sollte. Nun, wenn du mich vor 50 Jahren gefragt hättest, hätte ich mir natürlich nie vorstellen können, dass ich mal als Transfrau in Berlin leben könnte, geschweige denn, dass ich als Künstlerin und Journalistin tätig sein würde. Das war eine Art Evolution.
„Auf der Kleinkunstbühne darf ich die wütende schwarze Frau spielen, und ich kann Gerechtigkeit so prägen, wie ich will.“
Haben dich deine Eltern bei dieser Evolution unterstützt?
Das ist ein schwieriges Thema. Die familiären
Voraussetzungen waren eigentlich gut: Middle-Class-Idylle, katholisch, ein Hauch von Bourgeoisie, aber eben in der Welt der 60-70er Jahre. Die haben sich entwickelt und entfaltet – mit Demonstrationen, mit Unruhen, und diese Sachen kamen auch in meinem Zuhause an. Ich erblickte im Schatten der Freiheitsstatue das Licht der Welt und habe prägende Jahre meiner Kindheit im Norden der USA verbracht. Als Kind siehst du die Fackel der Freiheitsstatue und denkst: Vielleicht scheint die auch für mich.
Aber wie John Lennon gesagt hat: „Life is what happens to you, when you’re busy making other plans“.
Das Leben interessiert sich wenig für deine Pläne. Das prägt sich so aus, und das prägt dich mit. Da gab es ein paar Sachen, die passiert sind – es war nicht immer leicht. Ich wurde von einem buchstäblich bösen Onkel sexuell angegriffen. Doch obwohl ich ein eher scheues Kind war, und vielleicht auch gerade wegen dieser scheuen Prägung, wollte ich die Welt entdecken.
Vieles davon habe ich auch gemacht. Ich war mit dem Schiff unterwegs und mit Zügen überall auf der Welt. Meistens noch in relativ jungem Alter und immer mit diesem Wunsch, auf- und auszubrechen.
Auszubrechen auch aus diesem Familienkonstrukt?
Ja, überhaupt auszubrechen aus der Umklammerung. Ich will nicht alles schlecht reden, im Gegenteil – es ist sehr kompliziert. Es gab wunderschöne Momente mit meinen Eltern. Aber es gab auch Momente, die von Außenereignissen mitgeprägt wurden. Ich sag mal so: Ich merkte, dass ich zu meinem eigenen Vorbild werden musste. Klar, ein paar Moviestars und manche Athleten gab es, die ich mochte, aber ich war immer anders: queer und Schwarz. Also musste ich mir meine Heldinnen und Helden selber zusammenstellen und dann sagen: Jetzt bin ich dran!
Du musstest also deine eigene Heldin werden?
Ja, als Einzelkind ist es vielleicht leichter, diese Denkweise zu bekommen, da ich eh gewohnt war alleine zu sein. Es war also nicht immer eine Art Strafe, es war eine Herausforderung, aber nicht unbedingt etwas Negatives. In Gruppen war ich oft einsam, manchmal war ich also lieber alleine. Dann habe ich viel gelesen. Oder Kurzwellenradio gehört, als es das Internet noch nicht gab. So habe ich mich mit der ganzen Welt verbunden. Ich war eine Art Seelennomadin: Wenn ich nach oben schaute, wollte ich in die Unendlichkeit des Himmels, aber ich wollte auch in mich hineintauchen und mich wie einen Kontinent selbst erforschen. Das war immer damit verbunden, und es hört sich egoistisch an, mich so in den Mittelpunkt zu stellen, aber das wird dir eh immer vorgeworfen, besonders als Einzelkind.
Das war sicher sehr schwer.
Der Schlüssel war die Selbstliebe. Davon hatte ich schon in meiner Jugend sehr viel. Sowohl physische Selbstliebe als auch Self-affirmation. Und ich hatte diese hedonistische und diese hypochondrische Seite. Die Hypochondrie hat mich beschützt. Ich habe zum Beispiel nie in meinem Leben Drogen genommen. Das war fast ein Wunder in den 60ern, aber ich hatte einfach immer Angst. Sicherlich hat sie mich auch vor der AIDS-Krise gerettet. Ich kannte Leute, die nicht mehr leben, weil sie unvorsichtig waren. Aber das hat nichts mit Politik oder Moral zu tun, sondern mit Vorsicht. Wenn du queer, weiblich und Schwarz bist, dann musst du dich schützen.
„Wenn du queer, weiblich und Schwarz bist, dann musst du dich schützen.“
Was findest du an Berlin interessant?
Diese prickelnde Mischung aus Apokalypse und Aufbruchstimmung. Natürlich ist Berlin nicht immer so lakonisch lustig wie ein BVG-Plakat. Immerhin gibt es die Tatsache, dass die Mauer und ich in demselben Jahr auf die Welt kamen: 1961. Auch in meinem Leben musste ich ständig Mauern durchbrechen. Mit dem Kopf. Dafür braucht man und frau Aspiration und auch Aspirin! Das erscheint mir als eine Metapher für die Stationen meines Lebens. Frauen müssen das auch ständig machen, Schwarze müssen das ständig machen. Queere auch. Aber es härtet ab, und irgendwann denkst du: Okay, genug Kopfschmerzen. Aus diesen Ziegelsteinen kannst du auch Brücken bauen.
Ich hatte auch Familienmitglieder, die Berlin während der Zeit unmittelbar nach dem Krieg versorgten. Beide Omas schickten Care-Pakete nach West-Berlin und West- Deutschland. Einige Familienmitglieder waren an der Luftbrücke Ende der 40er-Jahre beteiligt, ein anderer schob Wache später am Checkpoint Charlie. Für mich war die Faszination von Berlin immer da. Filme wie Sinfonie der Großstadt oder M – Eine Stadt sucht einen Mörder aus den 1920er-Jahren hatte ich bereits im deutschen Originalton in meiner Kindheit in den USA gesehen. Dann später Fassbinders Verfilmung von Döblins Alexanderplatz. Ich hätte trotzdem nicht unbedingt vermutet, wo das hinführt. Aber der Fluss des Lebens schlängelt sich wie die Spree durch die Gegend und dann sagt man irgendwann: Ich bin schon da angekommen, wovon ich mal geträumt habe.
„In meinem Leben musste ich ständig Mauern durchbrechen. Mit dem Kopf. Frauen und Schwarze müssen das auch ständig machen. Das härtet ab!“
Welche solcher täglichen Entscheidungen würdest du dir von Frauen wünschen?
Mehr zu handeln, weniger zu hadern. Frau klagt ständig über den Gender-Pay-Gap und will mehr Transparenz. Aber Transparenz gibt es schon. Doch, doch. Frau steht unten und blickt empor. Was sieht sie? Die gläserne Decke. Und die gläserne Decke ist durchaus transparent, aber so was von. Da sieht sie, was sie von der Transparenz alleine hat – nämlich das Nachsehen. Wir brauchen also nicht lediglich Transparenz, wir brauchen Transzendenz! Die gläserne Decke muss durchbrochen werden wie das Glas bei einem Feueralarm. Denn es brennt. Nicht hadern, sondern handeln.
In der Altersgruppe über 50 dünnt sich die Anzahl der Frauen, die sich engagieren, zumindest teilweise aus. Wir müssen weiterkämpfen und dürfen uns nicht immer dafür entschuldigen, dass wir älter geworden sind. Wir sind reifer, wir sind auch stärker geworden! Und an Schönheit müssten wir weder innerlich noch äußerlich einbüßen. Neulich hatte ich das Vergnügen und die Ehre, für die Pride-Kampagne von GAP und Zalando vor der Kamera zu stehen, und zwar als Best-Agerin. Ja, als Model. Die Fotoshootings und die Videos sind sehr gut angekommen. Diesbezüglich erntete ich sehr viel Lob von Frauen und Männern, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Regenboegn-Community. In dem begleitenden Film erzählte ich als Story-Tellerin aus meine Leben. Das können wir Frauen tun. Wir können uns für etwas einsetzen und die Jüngeren inspirieren.
Ich als Transfrau weiß von beiden Ufern des Lebens aus, wo der Schuh drückt – vor allem bei engen Stilettos. Ich habe Fuß gefasst und kann sehr gut vermitteln und übermitteln. Ich verstehe wie die Männer ticken – ähnlich wie Zeitbomben, aber viele entpuppen sich als Blindgänger. Aber allein dadurch, dass die so ticken wie Zeitbomben, werden Frauen eingeschüchtert. Das ist die eine Sache, dass Frauen sich leicht – bewusst und unbewusst – von Männern einschüchtern lassen. Wenn die wüssten, wie viel Angst Männer oft haben, dann würden Frauen nicht nachgeben.
Männer sind immerhin multitaskingfähig. Doch, doch. Männer können schlafen und gleichzeitig schnarchen. Selbst im wachen Zustand machen Männer Multitasking. Männer können über die Gleichstellung der Frauen nachdenken und simultan ins Schwitzen ausbrechen. Allerdings gibt es auch gute Männer, welche die Sensibilität als Stärke betrachten und die Empathie nicht als unnütz abstempeln. Frau soll solche Männer begrüßen und encouragieren, weiter so zu agieren. Frau soll sich aber nie dafür entschuldigen, etwas mehr vom Leben haben zu wollen als das, was sie bisher bekam. Zum anderen sollten Frauen im Alter keine Angst davor haben, noch auf den Plätzen der Jüngeren unterwegs zu sein.
Heyday ist ein Begriff, der auf Aufbruch und auf Genuss anspielt und während wir kämpfen, um weiter zu kommen, sollten wir das Leben genießen. Das hält auch jung, durch Mentoring oder Modeling, ganz egal, und wenn man noch Kontakt zu den jüngeren Menschen hat. Wir dürfen uns gerne daran gewöhnen, dass die heranwachsenden Generationen dieses binäre System in Frage stellen, dass sie genderfluide Gedanken haben. Denn das bedeutet keineswegs, dass das, was als Männlein und Weiblein bezeichnet wird, gefährdet ist. Nein, das heißt, dass jede Person die Möglichkeit hat, sich so zu entwickeln, wie es für sie oder ihn richtig ist. Autonomie!
„Ich als Transfrau weiß ich von beiden Ufern des Lebens aus, wo der Schuh drückt – vor allem bei engen Stilettos. Wenn Frauen wüssten, wie viel Angst die Männer haben, dann würden Frauen oft nicht nachgeben.“
Du hast also keinerlei Probleme mit dem Altern?
Früher hatte ich einen Waschbrettbauch, heute habe ich einen Waschbärbauch, Rückenschmerzen und einen Hexenschuss. Mit zunehmendem Alter wirst du einerseits gelassener – aber andererseits ungeduldiger. Du erreichst eine Art Triage, und du lernst: Egal wie schrecklich viele Sachen sind, ich lasse es nicht zu, dass die mich alle gefangen nehmen, die sollen mich rühren und bewegen, daran kann ich feststellen, dass ich noch lebe. Aber ich kann nicht überall gleichzeitig physisch auftreten. Manche Kämpfe sind doch nicht so wichtig wie andere. Also wirst du auch gelassener. Gelassener, dass du nicht überall gleichzeitig auftreten kannst, aber ungeduldiger bei Themen, die du für den wahren Kampf hältst. Rassismus und Sexismus zum Beispiel. Das dürfen wir nicht aus den Augen lassen. Wir dürfen uns nicht verzetteln lassen! Dezidiert sein, aber bitte immer differenziert denken.
„Mit zunehmendem Alter wirst du einerseits gelassener – aber andererseits ungeduldiger. Du lernst: Egal wie schrecklich viele Sachen sind, ich lasse es nicht zu, dass die mich alle gefangen nehmen.“
Gibt es etwas, das du bereust?
Ich bereue, dass ich nicht früher vegan gelebt habe und auch nicht früher mein Trans-Coming-Out gemacht habe. Nur die zwei Sachen.
Und gibt es etwas, wovor du Angst hast?
Ja, es hört sich klischeehaft an. Aber nur vor der Angst habe ich Angst.
Ich habe mich vorhin freiwillig als Hypochonderin bezeichnet, das bin ich auch. Aber das würde ich nicht unbedingt als Angst per se bezeichnen, sondern eher als erhöhte Wachsamkeit. Aber natürlich gibt es auch Sachen, die ich sehr bedenklich betrachte. Die drei größten Gefahren in punkto Gerechtigkeit in der Gesellschaft sind Hass, Gleichgültigkeit und Bürokratie. Hassende, davon gibt es meist relativ wenige, und die Gleichgültigen, von denen es sehr viele gibt, die schauen weg. Aber die Bürokratie ist das, was wirklich am gefährlichsten werden kann. Die sagt: Wir haben es immer so gemacht, so machen wir es weiter. Wir brauchen weniger Leute, die vom Blatt lesen können und mehr Leute, die zwischen den Zeilen lesen können.
Apropos Gleichgültigkeit: Wie gefährlich die werden kann, musstest du bei einem Angriff in Köln auf offener Straße selbst erleben…
Ja! Da haben mich vier Jugendliche auf offener Straße angegriffen. Ich habe geschrien, aber keiner kam zur Hilfe. Schließlich habe ich die Jugendlichen in eine Sackgasse getrieben, die Polizei kam und drei von ihnen wurden verurteilt. Aber das schlimmste daran war nicht der Angriff, sondern die fehlende Zivilcourage. Der Angriff hat sich vor einem Restaurant ereignet und als ich mich dann bei dem Restaurantbesitzer beschwert habe, weshalb er mir nicht geholfen habe, hat der mir als Erklärung gesagt, ja ich hätte nicht so herumlaufen dürfen. Aber weißt du, was ich anhatte?
Es sollte keine Rolle spielen, was du anhattest!
Als wäre ich mit Strapsen rumgelaufen. Ich war sehr business-konservativ angezogen, also Kleid bis zu den Knien, Bolerojacke… Aber da siehst du diese misogyne, queerfeindliche, menschenfeindliche Einstellung! Ja, du bist selber daran Schuld, wenn andere dich schlagen, hättest du die nicht aufregen sollen. Darum sage ich: Die Hassenden, diejenigen, die Gewalttaten ausüben gibt es nicht in großer Zahl. Aber die vielen Gleichgültigen, die das zulassen, sind meines Erachtens nicht minder schuldig. Wir brauchen mehr Zivilcourage!
„Die Hassenden, diejenigen, die Gewalttaten ausüben gibt es nicht in großer Zahl. Aber die vielen Gleichgültigen, die das zulassen, sind meines Erachtens nicht minder schuldig. Wir brauchen mehr Zivilcourage!”
Das wäre das perfekte Schlusswort. Aber ich habe noch eine letzte Frage: Worauf bist du stolz?
Ganz ehrlich? Auf mich selbst. Auf alles, was ich überwinden und überleben musste. Andere wären schon von der Brücke gesprungen. Ich bin auf mich selbst verdammt stolz.
Die Berliner Transfrau und Aktivistin mit afroamerikanischen Wurzeln ist dieses Jahr 60 geworden. Sie ist Kabarettistin, Kolumnistin, Keynote-Rednerin und Diversity-Expertin. Ihre wortgewandten, in der TAZ erscheinende Kolumne Frauen ohne Menstruationshintergrund sind vielen Leser:innen bekannt. Zudem schreibt sie auch sozialkritische Artikel und Reportagen im Tagesspiegel, im LGBTQ-Magazin Siegessäule, in Missy, in Rosa Mag und für den Veganverlag.de. Ihr Essayband Race Relations: Rassismus und das Rennen um die Gerechtigkeit (ISBN 9783946625612, Verlag GrünerSinn) wird demnächst erscheinen.
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