„Ich fühle mich lebendiger als je zuvor”

Carolyn Doelling (74) aus den USA widersetzt sich dem „typischen” Bild einer Rentnerin – sie strotzt vor Motivation und Lebenskraft. Ihre Hobbys: Kickboxen und Modeln. HEYDAY ist begeistert von Carolyns Positivität und spricht mir ihr über ihre Lebenseinstellung

Carolyn Doelling posiert für Instagram

Carolyn freut sich über die Resonanz, die sie auf Instagram zu ihren Themen wie Styling oder Fitness bekommt

Foto: Ashley Batz

HEYDAY: Liebe Carolyn, unser Magazin stellt Frauen vor, die wie Du andere Frauen inspirieren und motivieren. Du bist selbstbewusst, hast einen großartigen Stil, setzt dich für Bürgerrechte ein und kämpfst gegen Rassismus. Erzähle uns doch mal, wie es dazu kam …

Carolyn Doelling: Schon seit den frühen 60er Jahren setze ich mich für Gleichberechtigung und gegen Rassismus ein. Momentan engagiere ich mich außerdem mit voller Leidenschaft für soziale Rechte von Frauen über 70 – eine Frau sollte mit Schönheit und Kraft altern können. Die Gesellschaft hat immer noch eine bestimmte Vorstellungen davon, was eine 74-jährige Frau tun sollte und tun kann. Als ich in Rente ging, merkte ich, dass ich mich zunehmend als unsichtbar empfand …

Im Gegensatz zu Frauen, die mit zunehmendem Alter auf Grau- und Beigetöne zurückgreifen, bist Du sehr farbenfroh gekleidet. Wie wählst Du dein Outfit jeden Tag aus?

Ich wähle meine Kleidung und die Farben, danach aus, was ich an diesem bestimmten Tag darstellen möchte – ähnlich wie Politiker die Farbe ihrer Krawatten basierend auf den Pflichten und den Terminen des jeweiligen Tages auswählen. Ich mache mir Gedanken darüber, welchen Eindruck ich hinterlassen möchte und kleide mich dementsprechend. Ein leuchtendes Gelb oder Pink, um ein warmes Lächeln hervorzurufen, lila und rostfarbene Töne, um anziehend zu wirken, blasse und pastellfarbene Töne, um Freude auszustrahlen … und so weiter.

Während der Corona-Pandemie haben sich viele Menschen sehr leger gekleidet, da es n den Augen vieler „keine Gründe“ gibt, sich hübsch zu machen. Wie ist es bei Dir?

Ich kleide mich an den meisten Tagen schön, um nicht nur ein gewisses Maß an Normalität wiederzuerlangen, sondern auch, um andere herauszufordern, denen ich tagsüber beiläufig begegne – der Bürgersteig ist mein Catwalk. Es gibt aber natürlich auch Tage, an denen ich keine Kleider oder ausgefallene Hosen trage. An solchen Tagen trainiere ich in meiner Auffahrt in farbenfroher Sportbekleidung – oder ich trage doch mal schickere Schuhe zur Jeans. Die Menschen, die ich jeden Tag treffe, scheinen meine Kleidung zu mögen.

Viele Menschen, die in die Rente gehen, gehen auf Reisen oder nutzen ihre Zeit zum Entspannen. Wie gestaltest Du Deine Freizeit?

Ich habe auch einige Reisen in den letzten zwei Jahren unternommen. Zum Glück sind die Orte, die ich am liebsten besuche, auch Hotspots für Mode: New York, aber auch ganz Europa, London, Paris. Ich bin jetzt entspannter als je zuvor, da ich älter bin und die Macht habe, das Leben zu leben, das ich mir aussuche, ohne Angst verurteilt zu werden.

Du hast als Rentnerin mit dem Kickboxen angefangen – woher nimmst Du Deine Energie?

Kickboxen ist sowohl belebend als auch entspannend. Allein die Vorstellung eines aggressiven Gegners oder eines riesigen Sacks, den man treten muss, ist sehr befriedigend. Zum Kickboxen bin ich durch eine Mutprobe gekommen. In meinem Fitnessstudio (vor Covid) wurde ich von anderen Frauen gewarnt, dass Kickboxen nichts für „ältere” Frauen sei, nur für jüngere, starke Leute. Ich beschloss, ihnen das Gegenteil zu beweisen und zu zeigen, dass auch ältere Menschen es schaffen können. Ich trat einem Kurs bei und baute langsam genug Kraft auf, um es mit einem Trainer in das zweite Level zu schaffen. Momentan lerne ich neue Techniken online.

Hast Du Ratschläge für Frauen, die während der Pandemie gezwungen sind, viel zu Hause zu sitzen? Wie können sie mehr Spaß, Abwechslung und Glück in ihren Alltag einbauen?

Betätigt euch körperlich! Dehnen oder einfach selbst Übungen mit einem Stuhl machen. Und neue Dinge ausprobieren. Denn bei alltäglicher körperlicher Aktivität werden Endorphine freigesetzt. Werdet kreativ – tut etwas was Ihr vorher noch nie getan habt.

„Altern ist der positivste Aspekt des Lebens. Kennst Du ein Spiel bei welchem es nicht das Ziel ist, die höchste Punktzahl zu erreichen?”

HEYDAY ist ja das englische Wort für Hochphase – und wir benutzen es, um zu demonstrieren, dass die zweite Lebenshälfte unendlich viel zu bieten hat. Wie fühlst Du dich jetzt im Vergleich zur 30-jährigen Carolyn? Wie hat sich Dein Leben verändert, seitdem Du im Ruhestand bist?

Ich fühle mich lebendiger als je zuvor. Dieser Lebensabschnitt ist die bisher beste Phase. Als ich 30 war, habe ich mich nur auf den Moment konzentriert – die Planung ging nicht über das Wochenende hinaus. Meistens musste ich während meines Erwachsenenlebens meine Mama, Papa, Ehemann, Kinder, Lehrer und viele andere berücksichtigen und gleichzeitig wollte ich all diesen Menschen auch gefallen. Jetzt erkenne ich, dass es Phasen geben muss, in denen ich mich auf mich konzentriere und diese genieße.

In den meisten Spielen des Lebens gewinnt derjenige mit der höchsten Punktzahl – warum nicht auch im wirklichen Leben? Ich freue mich, in der Lage zu sein, die Dinge zu tun, die ich kann, und andere zu ermutigen, mehr zu tun, als sie sich vorstellen können.

Was ist Deiner Meinung nach die größte Herausforderung des Älterwerdens?

Abgesehen von den Komplikationen, die es mit dem Körper geben kann, ist es eine soziale und emotionale Herausforderung, die negative Vorstellung von Menschen über das Älterwerden zu korrigieren. Die meisten interessieren sich nicht für Frauen in meinem Alter. Sie sagen ihre Zeit sei vorbei.

Wie wichtig ist es, sich stets Ziele zu setzen? Was hast Du dir aktuell vorgenommen?

In meinem Alter ist es nicht wichtig, sich langfristige Ziele zu setzen. Ich bin mehr interessiert daran, was ich kurzfristig erreichen kann: körperlich fit zu sein, neugierig zu bleiben, neue Sachen zu erlernen, keine Sachen anzufangen und nicht zu Ende zu bringen. Ich möchte die eine bedeutungsvolle Botschaft hinterlassen, die Frauen ermutigen und motivieren soll, die ihnen zur Verfügung stehende Macht auszuüben.

Was denkst Du über den ganzen Anti-Aging-Wahn – gerade auch unter jungen Frauen?

Der Anti-Aging-Wahn ist nichts Neues, das einzige Neue sind die Produkte, die angeworben werden. Menschen setzen Älterwerden mit Sterben gleich und niemand will sterben. Deshalb verstehe ich alle aufkommenden Gefühle zum Anti-Aging-Wahn. Wir wollen die Jugendlichkeit aufrechterhalten und das können wir auch in so vielen anderen Hinsichten. Gerade in der Modebranche ist der Schönheitsstandard, jung auszusehen.

Schon in den 50ern haben Agenturen dünne blonde und braunhaarige Frauen, die in der Küche standen, als Werbemodels für Produkte eingesetzt. Wir haben uns nicht viel verändert. Jetzt ist es an der Zeit, dass diese Denkweise durchbrochen wird.

Carolyn Doelling posiert für Instagram
Carolyn Doelling posiert für Instagram

Ob zuhause oder unterwegs – Carolyn legt viel Wert auf Looks, die nicht auf der 08/15-Stange hängen

Wie füllst Du Dein Leben als Rentnerin mit Spannung und Abwechslung? Welche Tipps und Tricks hast Du für unsere Leserinnen?

Investiere nicht zu viel Zeit darauf das zu tun, was andere Menschen von dir erwarten. Sei die Person, die du sein möchtest. Sei neugierig! Entdecke neue Dinge. Genieße das Leben, das du dir verdient hast, verbinde dich mit Menschen jeder Altersklasse. Wenn du das Glück hast, dass dein Körper gut funktioniert, mache jeden Tag etwas mit ihm. Dehnübungen, Cardio, Gewichte heben – all das ist wirklich wichtig.

Jeder hat Träume, aber nicht jeder traut sich, sie zu verwirklichen. Welche großen Risiken bist Du eingegangen, welche Veränderungen hast Du in Deinem Leben angestoßen? Was rätst Du anderen, die nicht den Mut haben?

Für mich hat das nichts mit Träumen oder dem Eingehen von Risiken zu tun. Ich möchte, dass ihr alle wisst, dass eine 74-jährige schwarze Frau mit afrograuen Haaren genauso schön ist wie eine 23-jährige brünette weiße Frau oder eine 20-jährige Schwarze Frau mit langen, glatten Haaren. Diese Nachricht hat den Zweck geteilt zu werden, um alle Frauen wertzuschätzen und zu ermutigen. 

Diversität ist momentan ein starker Trend in der Modebranche. Denkst du hierbei handelt es sich nur eine Marketingstrategie oder leben wir wirklich in einer Zeit der Veränderung?

Wir leben sicher in einer Zeit des Wandels, da sich auch die Demografie der Kaufkraft in jeder Ecke ändert. Ich beobachte zwar mehr ethnische Vielfalt, aber weniger Vielfalt was die Altersklassen anbelangt. Ich hoffe, dass Unternehmen in Zukunft Wert darauf legen, Personen jedes Alters für ihre Kampagnen zu fotografieren.

Carolyn Doelling auf dem Runway von McMullen

Was für ein Energiebündel: Carolyn bei der Show von McMullen im February
2020 in San Francisco

Foto: Drew Altizer Photography für McMullen

Wir von HEYDAY sind der festen Überzeugung, dass niemand einer Frau zu sagen hat, wie sich anziehen oder verhalten soll. Wie würdest Du darauf reagieren, wenn dir jemand sagt: „Du siehst nicht aus wie ein Model!

So etwas höre ich zum ersten Mal – außer manchmal von der Stimme in mir drinnen. Die Definition eines Models ist die Darstellung eines realen Lebens. Ich repräsentiere Authentizität. Es gibt weit mehr Frauen mit meinen körperlichen Maßen als mit jenen, die als Schönheitsstandard in Printmedien, in der Werbung und auf dem Laufsteg dargestellt werden.

Wie nimmst Du die aktuelle Situation bezogen auf den Rassismus in den USA wahr? Wirst Du im Alltag mit Rassismus konfrontiert, und wenn ja, wie gehst Du damit um?

Rassismus ist ein soziales Konstrukt, das in die amerikanische Kultur, sowie in die Kultur vieler anderer Länder eingebettet ist. Rassismus wird von Generation zu Generation weitergegeben und basiert auf grundlegendem Tribalismus. Außerdem gilt: Je heller die Hautfarbe, desto mehr Möglichkeiten, desto mehr Erfolgschancen hat man unabhängig von der Arbeitsmoral.

Was würdest Du sagen sind die Hauptgründe für Rassismus? Wie erlebst Du Rassismus in Deinem Umfeld?

Dia Hauprgründe? — Die menschliche Tendenz zum Tribalismus, ein Mangel an Berührungspunkten, Kommunikation und Bildung.

Ich erlebe täglich Rassismus. Schin bei kleinen Dingen. Ein Beispiel: Ein Metzger gibt mir ein Stück geräucherten Lachs von der letzten Woche. Obwohl ich gerade gesehen habe, wie er der weißen Frau vor mir ein frisches Stück gegeben hat. Das Paar mit zwei Hunden, das sich mir auf dem Bürgersteig nähert, erwartet von mir, dass ich, um den Abstand während der Pandemie einzuhalten, auf die Straße gehe. Das passiert überall auf der Welt. Meine Verwandten leben in Europa und erleben dieselben frustrierenden Dinge wie ich.

Und dann sind da noch die positiven Situationen, die mich verblüffen – wie die geschockten und die überraschten Blicke, wenn ich mit meinem Fahrrad in seriöser Radfahrerkleidung durch die Nachbarschaft fahre, oder das Erstaunen des Mitarbeiters, der mir meine COVID-Impfung verabreicht, über die Festigkeit meiner Armmuskeln.

Wir finden es bemerkenswert, dass Du dich gegen Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft aktiv einsetzt. Welche Veränderungen wünschst Du dir und welche denkst Du sind durch aktives Demonstrieren möglich?

In meinen frühen Jahren war ich an mehreren Fronten aktiv, etwa bei der Erziehung junger schwarzer Kinder und bei der Musikerziehung für alle Kinder in öffentlichen Schulen. Jetzt, mit 74, ist es mein Ziel, ältere Frauen zu ermutigen, sich nach der Pensionierung neu zu finden, umzudenken, etwas Neues zu starten und sich selbst zu respektieren. Wir können es nicht ändern, dass wir mit zunehmenden Jahren körperliche Veränderungen spüren werden. Wir können jedoch die Art und Weise ändern, wie wir an diese Veränderungen herangehen und sie positiv als ein Zeichen von Wachstum betrachten.

Wenn ich Aktivitäten ausübe, die für eine 74-Jährige ungewöhnlich sind, wie zum Beispiel Kickboxen, Radfahren oder Gewichte heben, verändere ich die Vorstellung der Menschen über das Altern.⁠ Mein Ziel ist es, die Wahrnehmung der Menschen zu verändern und die Hoffnung zu haben, dass sich so die Schönheitsstandards anpassen, die heute in der Modebranche und in der Werbung präsentiert werden.

Als Model werde ich nicht nur mit Rassismus konfrontiert, sondern auch mit:

  • Dem Altern – laut der Vogue Business liegt das Durchschnittsalter der Models bei 22 Jahren. Die Modebranche tendiert dazu, 20- bis 30-Jährige mit langen glatten Haaren und einem superdünnen Körper zu bevorzugen.
  • Der Größe – „Wir suchen Frauen ab 1,77m.”
  • Dem Hairstyle – Die Präferenz liegt bei langen glatten, brünetten oder blonden Haaren anstatt kurzen chaotischen, lockigen und grauen Haaren.
  • Der Hautfarbe – Sätze wie: „Sie ist weder hellhäutig genug noch dunkelhäutig genug.“

Meine Mission ist es, authentische Frauen als Models zu fördern und die sogenannten „Schönheitsideale” abzulösen. Die meisten Konsumentinnen sind zwischen 50-70 Jahre alt. Werbetreibende sollten dies endlich zur Kenntnis nehmen.

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