Wahnsinn: Parallel zum Studium hat HEYDAY-Autorin Sarah Kessler ihren ersten Roman geschrieben, und beide Herausforderungen erfolgreich gemeistert. „Wenn wir nicht aufgeben und stattdessen Gelegenheiten am Schopfe packen – dann können wir alles schaffen,” sagt die Politikwissenschaftlerin und angehende Juristin, die sich damit einen Traum erfüllt hat. Hier schildert sie in fünf Punkten, wie sie sich selbst zum Durchhalten motiviert hat – und warum mutiges Handeln am Ende immer belohnt wird
Politikwissenschaftlerin, angehende Juristin und neue HEYDAY-Autorin Sarah Kessler, portraitiert von Fotograf Jean-Pierre Christalle
Ich habe eine tiefsitzende Urangst, eine Angst, die mich bei jedem Schritt, den ich gehe, bei jeder Entscheidung, die ich treffe, begleitet. Meistens versteckt sie sich hinter anderen, kleinteiligeren Ängsten, manchmal versteckt sie sich auch so gut, dass ich für einen Moment denke, sie wäre verschwunden. Aber dann lauert sie mir wieder auf. Es ist die permanente Angst, etwas zu verpassen (nein, wir sprechen hier nicht vom Modebegriff FOMO), nicht das Maximum aus dem Leben herauszuholen. Manchmal hasse ich diese Angst. Aber sie ist es auch, die mich antreibt und dafür sorgt, niemals aufzugeben. Daran, dass ich trotz all der privaten wie beruflichen Turbulenzen immer weitermachen konnte, es bis zur Veröffentlichung meines Debüts schaffte, daran ist nicht zuletzt meine Angst schuld. Aber eins nach dem anderen …
1. EINFACH
ANFANGEN
Es war April 2019. Ich hatte gerade mein Jahr Repetitorium für das Examen abgeschlossen, quasi eine Art privates Nachhilfeunternehmen, das mit der Angst der Jurastudierenden, durch das Examen zu fallen, Geld verdient, ein Praktikum bei einer Anwältin für Familienrecht beendet und einen Umzug geschmissen. Nun hatte ich mir zwei Wochen freigenommen. Die erste Woche reiste ich mit Freundinnen nach Brüssel und Antwerpen, die zweite Woche verbrachte ich mit meiner Familie am Strand in Bergen aan Zee. Seit ich ein Kind war, fuhren wir an diesen Ort. Es fühlte sich an, wie nach Hause kommen. Ich war es gar nicht mehr gewohnt, ohne schlechtes Gewissen ausschlafen zu können und den Tag ausschließlich nach meinem Gusto zu gestalten. Bei den ausgedehnten Strandspaziergängen verarbeitete ich das Praktikum, bei dem etwa zwei Drittel der Mandantinnen von Gewalterfahrungen in der Beziehung berichtet hatten. Und plötzlich keimte diese Idee einer Geschichte auf, wuchs unablässig und als ich das gemütliche Ferienhaus erreichte, konnte ich sie nicht mehr aufhalten. Völlig unbedarft schrieb ich den Prolog, nicht wissend, wohin mich diese ersten Sätze in den folgenden Jahren führen würden. Den restlichen Urlaub war ich nicht ansprechbar, malte Skizzen, entwickelte meine Charaktere und bis ich wieder Zuhause in meiner Studibude war, in der mein Lernplan schon auf mich wartete, hatten die Figuren ein Eigenleben entwickelt und damit verhinderten, dass ich sie auf meinem Desktop schlafen legte.
2. ES GIBT KEIN GUTES TIMING –
ALSO: GELEGENHEITEN ERGREIFEN
Sicher wäre es vernünftig gewesen, auf die vielen Stimmen in meinem Umfeld zu hören, die mich davor warnten, ich könne doch nicht neben meinem Studium „mal eben so“ ein Buch schreiben. Das könne ich immer noch danach tun. Alles zu seiner Zeit eben. Aber bevor ich die Gedanken richtig sortieren konnte, bekam ich Besuch. Ihr ahnt es schon, genau! Meine Angst klopfte an und auch, wenn ich die Tür nur einen kleinen Spalt öffnete, kam sie direkt rein und nahm den ganzen Raum ein. Wir stritten uns nächtelang. Jedes vernünftige Argument, weshalb ich vielleicht nicht wieder alles gleichzeitig machen sollte, zerschlug sie mit dem immer gleichen Satz „Was, wenn du dann deine Chance vertan hast?“
Ich kenne diesen Satz. Und schließlich konnte ich nicht anders, als es zu versuchen. Es gibt eben kein gutes Timing. Der richtige Moment ist eine Erfindung. Also schrieb ich mir einen Wochenplan, der Roman und Examen vereinte, stand täglich eine Stunde früher auf und tippte jeden Morgen konsequent 1000 Worte. So wuchs mein Buchbaby unglaublich schnell. Zaghaft erzählte ich einer Kollegin von dem Manuskript, die gerade ihren ersten Buchvertrag unterschrieben hatte. Es war ein klitzekleiner Verlag, ganz frisch auf dem Markt, die erste Veröffentlichung stand noch aus. Sie vermittelte mir den Kontakt und es fühlte sich an wie Schicksal, als auch ich kurze Zeit später meinen eigenen Buchvertrag im Briefkasten liegen hatte. Gelegenheiten ergreifen! Nun hatte ich eine Deadline und meine Angst triumphierte, war es doch richtig gewesen, auf sie zu hören und weiterzumachen. Ich war so euphorisch, dass ich Warnsignale überhörte und schrieb unermüdlich. Parallel geriet zu allem Überfluss
– davon unabhängig – auch noch mein Privatleben aus den Fugen. Bis ich nach acht Jahren Beziehung entschloss, mich von meinem Mann scheiden zu lassen.
3. AGIL BLEIBEN
Plötzlich war meine Welt aus den Angeln gehoben, ich fühlte mich, als wäre meine innere Kompassnadel durch einen Magneten beschädigt worden und plötzlich schwiegen mich auch meine Romanfiguren an. Dass ich mich u.a. für eine Familie mit türkischer Geschichte entschieden hatte, lag nicht zuletzt auch daran, dass mein Exmann der Enkel türkischer sogenannter „Gastarbeiter“ ist und ich mich lange Zeit als Teil dieser Familie sehr intensiv mit daraus resultierenden Erfahrungen und Diskriminierungsstrukturen auseinandergesetzt hatte. Als ich mit dem Schreiben begann, führte ich stundenlange, sehr persönliche Gespräche mit der Familie, die mir immer wieder neue Interviewpartner:innen vermittelte. Ich fühlte mich als Teil der Familie, trug immerhin auch den gleichen Nachnamen. Doch plötzlich fühlte ich mich wie ein Eindringling. Durfte ich nun diese Geschichte noch erzählen? Mein Roman stand auf dem kritischsten Prüfstand, den man sich nur denken kann: auf dem der Autorin selbst. An manchen Tagen wollte ich alles in die Tonne kloppen, da löschte ich seitenweise ganze Kapitel und schließlich entschied ich: So nicht. Ich stand nicht mehr hinter meiner eigenen Geschichte.
„Gut, wenn du nicht mehr hinter der Geschichte stehst“, hörte ich plötzlich meine Angst, „dann denk dir halt eine neue aus. Aber verpass auf keinen Fall die Gelegenheit der Veröffentlichung.“ Und auch, wenn sie mich regelmäßig in den Wahnsinn treibt, ist es das, was ich mit den Jahren zu schätzen lernte: Sie macht mich nicht nur rastlos sondern eben auch agil. Und so nahm ich mir ein paar Tage frei und strukturierte die Geschichte neu, erfand einen anderen Rahmen und zusätzliche Figuren und als ich gerade fertig war, ja sogar die ersten Coverentwürfe standen, da habe ich einen Anruf vom Verlag erhalten, dass sie dem ersten Lockdown finanziell nicht standhalten konnten und nun pleite seien.
Ich war gescheitert. Zum zweiten Mal stand mein Buch vor dem Aus. Nachdem ich die ersten Tränen vergossen hatte, schaltete ich mein Handy aus und fuhr weg. Zweieinhalb Wochen lang, erst nach Norden, dann nach Osten und schließlich bis nach Tschechien mit einem improvisierten Camper. Ich wanderte durch die Sächsische Schweiz und tankte auf den Gipfeln neue Kraft, schlenderte durch Metropolen, besuchte in Berlin die Hauptschauplätze des Romans, schlemmte in Prag und ich schimpfte wie ein Rohrspatz auf die Verlagsleiter, die mir nämlich zu allem Überfluss auch noch einen Teil ihrer selbstverursachten Schulden in die Schuhe schieben wollten. Zwei Tage vor meinem Scheidungstermin kam ich schließlich gut erholt Zuhause an, zog die Scheidung durch und bewarb mich (erfolgreich) mit meinem Manuskript bei einer Lesung für ein Kulturfestival. Auch ohne Verlag sollte meine Geschichte gehört werden – Gelegenheiten nutzen und so!
Falle sieben mal hin, stehe acht mal auf – so ist das Leben, wenn man sich weigert, aufzugeben …
4. VON NICHTS KOMMT NICHTS
oder WARUM SCHEITERN EINE CHANCE IST
Und dann schickte ich ein Exposee mit Leseprobe an knapp 50 Verlage. Ich erinnere mich noch gut an einen Satz, über den ich bei der Recherche immer wieder stolperte: „Gute Literatur wird immer einen Weg in die Buchläden finden.“ Aufgeregt wartete ich wochenlang. Keine Reaktion. Die meisten Verlage schreiben auf ihren Websites, dass sie sich ausschließlich bei Interesse innerhalb der nächsten sechs Monate zurückmelden würden. Ich begann zu zweifeln. Vielleicht war mein Manuskript eben keine „gute Literatur“. Ich sorgte mich bereits um die Reaktionen aus meinem Umfeld, denn die Fehlerkultur, in der wir leben, sieht Scheitern keineswegs als Chance. Doch als genau das sollte es wahrgenommen werden, denn wir haben eine fürchterliche Fehlerkultur. Wer scheitert, der wird erstmal geächtet (oder zumindest fühlt es sich so an!). Dabei versteckt sich hinterm Scheitern in der Regel eine große Chance. Nach einer ehrlichen Fehleranalyse neu beginnen zu können, aus der Erfahrung zu lernen, einen neuen, besseren Plan zu schreiben, das sind alles neue Chancen. Nur, wer den Kopf in den Sand steckt und aufgibt, der hat verloren. Das Weitermachen ist es, worauf es ankommt – und wenn wir fünf Mal Scheitern, ganz egal.
5. MUT WIRD BELOHNT
Dann, eines grauen Oktobertages, hatte ich die Mail in meinem Postfach: Thomas vom Hansanord Verlag bekundete sein Interesse und wollte mein gesamtes Manuskript lesen. Wenige Tage später erhielt ich von einem zweiten Verlag die gleiche Nachricht. Nun schienen sich die Ereignisse zu überschlagen. Was soll ich sagen? Das Ende vom Lied kennt ihr: Es kam zum Vertrag mit Hansanord und ein knappes halbes Jahr später hielt ich mein Buchbaby tatsächlich in der Hand. Ich konnte es nicht glauben. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, es war das verrücktseste Gefühl, dass ich bisher je empfand. Das hatte wirklich ich geschrieben? Einerseits platzte ich fast vor Stolz, andererseits war schlagartig jedes Selbstvertrauen in den Text im Keller. Jetzt musste ich mein Baby in die Welt lassen. Was, wenn es nicht ankommt? Wenn es den Leser:innen nicht gefällt? Wenn es sich nicht so gut verkauft und ich das Potenzial, das in dem Text steckt, nicht ausschöpfen kann? Ja, ja. Meine Angst war lauter als je zuvor. Ich lerne eben noch, sie in die Schranken zu weisen. Denn Erfolge genießen, das kann sie nicht so gut. Immer weiter, los das nächste! Nicht, dass du noch was verpasst, rief sie mir zu. Sie wollte einfach nicht still sein. Bis zu dem Moment, als ich in einer Buchhandlung stand und dort meinen Roman von der Auslage fischte, top platziert neben großen Krimiautor:innen, die ich sehr schätze. Da hielt sie inne, wenigstens für einen kleinen Moment, berauscht von diesem unbeschreiblichen Gefühl. Ich hatte es tatsächlich geschafft. Mut wird belohnt! Und dieser Moment machte augenblicklich jeden Tropfen Schweiß, jede Träne gut, die ich im Prozess verloren habe.
Ich schreibe, seitdem ich ein Kind war. Es gibt keine Ausdrucksform, in der ich ehrlicher mit mir sein könnte – unnachgiebig und liebevoll zugleich. Dennoch traute ich mich nie, eine Karriere in diesem Bereich anzustreben. Das hat dieser Roman geändert. Wenn wir nicht aufgeben und stattdessen Gelegenheiten am Schopfe packen – dann können wir alles schaffen. Was nach einem Kalenderspruch klingt, ist eine simple Wahrheit: Wir leben nur einmal – worin liegt der Sinn, das Leben nicht so zu gestalten, wie wir es wirklich wollen? Dafür brauchen wir Mut. Scheitern gehört dazu – aber wenn wir agil bleiben, ehrlich Chancen abwägen, Initiativen ergreifen und Gelegenheiten wahrnehmen, dann ist Aufgeben keine Option. Und am Ende wird Mut immer belohnt.
Tradition Mord von Sarah Kessler ist im Hansanord Verlag erschienen und kann unter anderem HIER als Taschen- oder E-Book online bestellt werden
Über Sarah Kessler
Sarah Kessler, 1993 in Kassel geboren, ist Buchautorin und Feministin. Aufgewachsen in Ostwestfalen und mit Zwischenstationen in Newcastle und Galway, zog es sie an die Universität Münster, um „Politik und Recht“ zu studieren. Nach ihrem erfolgreich beendeten Bachelor hat sie dort auch die Zusatzausbildung „Journalismus und Recht” absolviert und befindet sich gerade in der Endphase ihres Zweitstudiums – Jura. Ihr Debütroman Tradition Mord erschienen im April 2021 im Hansanord Verlag, befasst sich mit dem Thema Gewalt gegen Frauen und rückt die strafrechtliche Rolle der kulturellen Zuschreibung der Täter in den Fokus. Für das Magazin Séparée schreibt Kessler über weibliche Sexualität, darüber hinaus veröffentlicht sie Texte u.a. für die Onlinemagazine Femtastics und HEYDAY.
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