In der Welt von US-Fotograf Charlie Engman ist jeder Tag ein Muttertag, denn Kathleen McCain Engman ist für ihn zugleich Muse, Model und Enigma. Sein Bildband MOM ist beileibe kein Familienalbum, sondern inszenierte Kunst und Auseinandersetzung mit der ganz persönlichen Mutter-Sohn-Dynamik – ein cooles, spannendes und inspirierendes Projekt…
Yes, I can! – Kathleen McCain Engman gehört definitiv in die Kategorie „Super-Mom”
Private Schnappschüsse auf ihrem Instagram-Account beweisen: Kathleen McCain Engman kann tatsächlich lächeln, ja sogar herzlich lachen. Das ist beruhigend, wenn man zuvor die Publikation ihres Sohnes durchgeblättert hat, in der eine vorwiegend mürrisch erscheinende Dame zu sehen ist – das Schlagwort resting bitch face, von der FAZ einst als „Phänomen des genervten Aussehens bei absolut neutralem Gesichtsausdruck” umschrieben, wäre hier gar nicht so weit hergeholt. Aber der Bildband MOM ist ja auch kein herziges Familienalbum – es geht um Inszenierung, Rollenspiele und die Aufarbeitung einer ganz persönlichen Beziehung.
Seit 2009 agiert Kathleen, offenbar ohne mit der Wimper zu zucken, vor der Kamera ihres Sohnes Charlie wie eine Sphinx – geheimnisvoll, undurchschaubar, rätselhaft. Mit unbewegter Monty-Python-Mine macht sie sich die irrsten Szenen zu eigen. Was empfindet sie bei dieser oder jener mysteriösen Rolle, die der Sohn ihr angedacht hat? Etwa als eine Art „Goldfischfrau” mit wassergefüllter Plastiktüte über dem Kopf? Oder, wie hier auf Instagram zu sehen, als fleischliche Erweiterung eines Designer-Stuhls von Gaetano Pesce? Abgesehen von der Bekundung, mit der Portraitserie die Beziehungsdynamik zwischen sich und seiner Mutter erforschen zu wollen, liefert Charlie Engman in seinem Buch keinerlei Aufklärung über die von ihm orchestrierten Szenarien – doch die Gedanken der Betrachter:innen sind frei…
Über 1000 inszenierte Portraits von Kathleen enthält der Band, zur (frei)geistigen Verhandlung stehen in diesem Rahmen unter anderem Themen wie Familienbande, Vertrautheit, Grenzen, Rollenverhalten, Macht, Verletzlichkeit und nicht zuletzt auch schonungslose Sichtbarkeit. In den Buchbesprechungen der Feuilletons machte man sich mitunter Sorgen um die Mutter, die sich dem Sohn womöglich „willen- und freudlos” als eine Art stets verfügbares Kunstobjekt „ausgeliefert” habe. Zahlreiche Interviews mit Mutter und Sohn beweisen jedoch, dass es sich bei Kathleen um eine eigen- und kunstsinnige Frau handelt, die das Konzept des Sohnes nicht nur akzeptiert, sondern auch persönlich anregend findet.
Wie nicht anders zu erwarten, drehten sich im immer noch kreuzpuritanisch geprägten Teil der USA die Diskussionen zu Engmans Bildband reflexartig um jene Motive, auf denen Kathleen viel Haut zeigt: Tabubruch? Grenzüberschreitung? Unangemessene Mutter-Sohn-Beziehung? Nackte Frau über 60, igitt? Etc., etc. pp., bla, bla, bla… Typisch, systemisch – alles wie gehabt. Wie langweilig, und wie ewig gestrig.
In einem Spiegel-Interview, in dessen Fragen in Bezug auf jene Bilder Adjektive wie „lasziv“ und „verstörend” auftauchten, antwortet Charlie Engman gänzlich unaufgeregt: „Alle Körper verströmen Sexualität und Lust. Ich interessiere mich für alle Facetten meiner Mutter. Warum sollte ich also ihren Körper meiden?” Und Kathleen setzt nach: „… auf die Frage, ob ich mich jemals geschämt hätte, habe ich eine sehr einfache Antwort: Niemals! … Es liegt daran, dass ich meinen Kindern total vertraue. Was manchmal schwierig ist, manchmal schmerzhaft. Aber warum sollte ich es nicht tun?”
Nicht zuletzt erfüllt der Bildband MOM tausendfach den Anspruch, den sich auch unser HEYDAY MAGAZINE gesetzt hat: Die Frau über 50 sichtbar zu machen – ganz und gar selbstverständlich und in all ihren Facetten!
Fest steht, dass es sich beim Werk von Charlie Engman, der übrigens queer ist, um gänzlich subjektiv motivierte Inszenierungen handelt, die sich bei ihm um jenen Menschen drehen, der uns allen wohl am nächsten ist. Dieser ganz spezielle Mensch, den wir wahlweise niemals loslassen oder loswerden können oder wollen: „Deine Mudda!” – auf Gedeih und Verderb. Und von religösem Firlefanz sowie der bigotten Überhöhung diverser Glaubensgruppen rund um die Figur der Mutter wollen wir jetzt gar nicht erst anfangen. Vor all diesen Hintergründen und Projektionsflächen sei nur kurz gesagt: Der persönlichen Mutter-Sohn-Dynamik auf den Grund gehen – ganz sicher keine leichte Aufgabe, die sich Engman da gestellt hat.
Dass die völlig subjektive fotografische Auseinandersetzung mit der Person seiner Mutter im Erscheinungsjahr des Bildbandes 2020 für manche Leute das Zeug zum Skandal hatte, will uns hier bei HEYADY partout nicht eingehen. Ganz im Gegenteil: Wir halten MOM für ein mutiges und zugleich sehr verspieltes Projekt mit jeder Menge Humor und Forschergeist, das motiviert, inspiriert und zum Nachdenken anregt. Und nicht zuletzt erfüllt MOM tausendfach den Anspruch, den sich auch unser HEYDAY MAGAZINE gesetzt hat: Die Frau über 50 sichtbar zu machen – ganz und gar selbstverständlich und in all ihren Facetten!
Rätselhafte Rollenspiele: Die Inszenierungen von Fotograf Charlie Engman bleiben unerklärt und sind somit freigegeben zur gefälligen Spekulation der Betrachter:innen
Eine Frau, tausend Facetten – die Grenzen zwischen Inszenierung und privaten Schnappschüssen scheinen mitunter zu verschwimmen
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Ein Blick ins Buch: Der Kunstband enthält über 500 farbige Abildungen, einen Essay der Autorin Rachel Cusk sowie ein Interview, geführt von der Filmemacherin und Künstlerin Miranda July
MOM – der Bildband
Die Erstauflage des Kunstbuchs MOM kann man HIER über Edition Patrick Frey für 58 Euro online bestellen