Weltweit sind es vor allem die Frauen, die unsere Gesellschaft in der Krise am Leben erhalten – ob als Ärztin, Krankenschwester, Pflegerin im Altenheim, als Kassiererin im Supermarkt, oder zuhause bei der Kinderbetreuung. Welche lebenslangen Auswirkungen Corona auf das Leben von Frauen und Mädchen haben kann, erklärt Dr. Ursula Sautter von UN Women in unserem Interview
HEYDAY: Warum wird Corona auch „die Krise der Frauen” genannt?
Dr. Ursula Sautter: Obwohl viele Berichte zeigen, dass etwa 60 Prozent der Corona-Infizierten Männer sind, also das direkte Gesundheitsrisiko für sie größer ist, können wir wirklich mit Berechtigung sagen: Frauen sind von der gegenwärtigen Situation generell fundamentaler betroffen.
Inwiefern trifft die Corona-Krise Frauen härter als Männer?
Krisen verstärken existierende Ungleichheiten – dies trifft auch auf Corona zu. Frauen und Mädchen zählen in allen Gesellschaften zu benachteiligten Gruppen – noch kein Land der Welt hat bisher eine wirkliche Gleichstellung erreichen können. Deshalb sind Frauen und Mädchen von der Covid 19-Pandemie besonders hart betroffen – wirtschaftlich und sozial.
Warum wirtschaftlich?
Weltweit arbeiten 50 Prozent der Frauen in prekären, das heißt informellen, unsicheren, schlecht bezahlten Beschäftigungsverhältnissen, oft ohne angemessenen rechtlichen Schutz und ohne Sozialleistungen – als Hausangestellte, Gelegenheitsarbeiterinnen und in kleinen Dienstleistungen wie dem Friseurhandwerk. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) geht davon aus, dass allein in den nächsten drei Monaten fast 200 Millionen Arbeitsplätze verloren gehen werden, viele davon in diesen Bereichen.
In Zeiten eines völlig überlasteten Gesundheitssystems und geschlossener Schulen übernehmen die zusätzlich anfallenden Betreuungsarbeiten jetzt meist Frauen – noch mehr als sonst. Während dieser Zeit können sie keiner bezahlten Arbeit nachgehen, was unmittelbar und langfristig erhebliche ökonomische Konsequenzen haben kann.
Im sozialen und gesundheitlichen Bereich hat die Corona-Pandemie ebenso vielfältige Auswirkungen, vor allem in ärmeren Ländern. Da sind die Mädchen, die die Schulausbildung abbrechen müssen – das passiert oft in Krisenzeiten und hat lebenslange Folgen. Da sind die jungen Frauen, deren sexuelle und reproduktive Gesundheit in der Krise vernachlässigt wird. Stichpunkt: erschwerter Zugang zu Verhütungs- und Menstruationsprodukten. Alles zusammen kann in der Folge zu einer höheren Säuglings- und Müttersterblichkeit führen.
„50 Prozent der Frauen weltweit arbeiten in prekären, unsicheren, schlecht bezahlten Beschäftigungsverhältnissen, oft ohne angemessenen rechtlichen Schutz und ohne Sozialleistungen.“
„Die Corona-Pandemie deckt Ungleichheiten aller Art auf, darunter auch die der Ungleichbehandlung der Geschlechter. “
Diese Krise offenbart, dass Frauen ohnehin viel mehr unbezahlte Sorgearbeit leisten als Männer. Warum wird diese Tatsache trotzdem immer noch ignoriert?
Diese ungleiche Verteilung ist ein Relikt aus den Zeiten, in denen fast ausschließlich die Männer als Hauptversorger der Familie einer bezahlten Arbeit nachgingen und die Frauen zuhause blieben. Das ist schon lange nicht mehr so – in Deutschland beträgt die Frauenerwerbsquote heute etwa 70 Prozent. Aber die alten Muster sind schwer zu verändern. Außerdem steckt in vielen Köpfen noch, dass Frauen „so etwas“ einfach besser können – quasi genetisch.
Wie ist es möglich, dass Frauen in ihren für die Gesellschaft lebenswichtigen Berufen so wenig verdienen? Wie schaffen wir es, dass sich hier so schnell wie möglich etwas ändert?
Das liegt an einer mangelnden Wertschätzung dieser Tätigkeiten, die als Domäne der Frauen gelten – und das, obwohl sie unser funktionierendes Miteinander gewährleisten. Sorgeberufe werden als weniger anspruchsvoll und weniger wichtig erachtet als traditionelle Männerberufe. Ein Bericht des Instituts Arbeit und Qualifikation an der Universität Duisburg-Essen von 2017 zeigt etwa: Bei vergleichbaren Arbeitsbelastungen verdienten Führungskräfte im Bereich von IT-Dienstleistungen rund 17 Euro pro Stunde mehr als Fachpersonal im Pflege- und Gesundheitswesen.
Um hier einen Wandel zu erreichen, sind besonders die Politik und die Arbeitgeber gefragt, die entsprechende gesetzliche Rahmenbedingungen schaffen bzw. Arbeitsbedingungen attraktiver machen müssen. Und natürlich sind wir alle selbst gefragt.
Für viele Familien ist es ein Problem, dass Betreuungsarbeit weiterhin zu Hause geleistet werden soll, da die Kitas immer noch geschlossen sind. Welcher Schaden entsteht, wenn sie dauerhaft der Überlastung durch Kinderbetreuung, Homeschooling und Erwerbsarbeit ausgesetzt sind?
Es ist wahrscheinlich, dass dann in Familien, in denen beide berufstätig sind, ein Elternteil den Job aufgibt, um die Mehrbelastung zu schultern, was zu finanziellen Einbußen führt, die sich viele nicht leisten können. Und: Da sicherlich nicht das besserverdienende Elternteil zuhause bleibt, wird dies wiederum stärker die Frauen treffen. Denn von den erwerbstätigen Müttern in Deutschland arbeitet über die Hälfte in Teilzeit und verdient deshalb weniger.
Doch sind es immer noch die Männer, die die Entscheidungen treffen. Machen wir durch diese Krise wieder Rückschritte beim Thema Gleichberechtigung?
Das wird sich erst zeigen. Man muss es immer wiederholen: Die Pandemie deckt Ungleichheiten aller Art auf, darunter auch die der Ungleichbehandlung der Geschlechter. Auch vorher stellten Frauen weltweit nur etwa ein Viertel der politischen Entscheidungsträger*innen, sie waren nur etwa zu 27 Prozent an Friedensverhandlungen und anderen fundamentalen Gremien beteiligt. Corona macht dies sichtbar.
„Bloß nicht hinschauen – das sind wir ja seit langem schon gewöhnt. Jetzt kommt noch das „bloß nicht zu nahekommen“ dazu und die soziale Isolation verstärkt sich.“
In vielen Ländern, aber auch bei uns, nimmt die häusliche und sexuelle Gewalt gerade zu. Woher kommt das?
In Krisenzeiten nimmt Gewalt häufig zu und die ungewohnte Situation des ständigen Zuhausebleibens tut ein Übriges: Familien sitzen den ganzen Tag zusammen Zuhause, finanzielle Sorgen zehren an den Nerven, die Kinder sind nicht ausgelastet, weil sie nicht raus dürfen. Das führt zu Frust, zu Spannungen, zu Aggression, die nicht abreagiert werden können. Irgendwann entlädt sich das dann in Form von Beschimpfungen, Schlägen und Tritten – in Gewalt eben. Und die Opfer dieser Gewalt sind, noch häufiger als sonst, Frauen und Kinder.
Wie schätzt Du die Situation für Frauen und Mädchen gerade ein?
Die Lage ist prekär: Verantwortliche Stellen überall auf der Welt berichten, dass häusliche Gewalt seit Beginn der Ausgangsbeschränkungen zugenommen hat. In Frankreich etwa sind entsprechende Fälle seit dem Lockdown Mitte März um 30 Prozent gestiegen. In Deutschland verzeichnet z.B. das Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen einen Anstieg der Anrufe um 17,5 Prozent. Und die Dunkelziffer dürfte immens sein – hier und anderswo.
Dazu kommt: Jeder und jede von uns ist – verständlicherweise – gerade sehr damit beschäftigt, sich um die eigene Gesundheit und die der Familie und Freunde zu sorgen. Da fällt uns dann vielleicht noch weniger als sonst auf, was in der Nachbarschaft passiert. Bloß nicht hinschauen, das sind wir ja seit langem schon gewöhnt. Jetzt kommt noch das „bloß nicht zunahekommen“ dazu, und die soziale Isolation verstärkt sich.
Was sollte man tun, wenn man so etwas in der Nachbarschaft oder bei Bekannten mitbekommt?
Jetzt verstärkt auf Alarmsignale zu achten und dann aktiv zu werden ist ungemein wichtig. Man sollte versuchen, Betroffene wissen zu lassen, wo sie Unterstützung bekommen können. Das ist ganz einfach: Das Familienministerium informiert seit neuestem mit der Aktion #ZuhauseNichtSicher? auf in Supermärkten angebrachten Plakaten über Hilfsangebote für von Gewalt betroffene Frauen. Diese Plakate kann man HIER downloaden, und dann verteilen oder aufhängen.
Welche weiteren Maßnahmen können helfen, um Frauen in dieser schwierigen Zeit zu unterstützen?
Neben mehr Informationen für Betroffene brauchen wir akut mehr Plätze in Frauenhäusern. Da ist es ein guter Schritt, wenn manche Länderregierungen jetzt Hotels oder andere Immobilien anmieten, um kurzfristig Schutzräume anbieten zu können. Aber schon vor Covid-19 konnten die Frauenhäuser die Nachfrage nicht stillen – in Deutschland fehlten z.B. 14.000 Betten. Da müssen wir langfristig nachsteuern.
Im Moment findet die Beratung für betroffene Frauen gezwungenermaßen fast ausschließlich per Telefon oder Internet statt. Wenn die Kontaktsperre nicht mehr gilt, werden aber vermutlich wieder mehr Frauen in Beratungsstellen kommen – vielleicht mehr als vorher. Dann müssen dafür auch die benötigten Geldmittel bereitgestellt werden, und zwar langfristig, da die psychischen Spätfolgen der Krise noch lange andauern werden.
Wie sehen eure Hilfsmaßnahmen bei UN Women aus?
UN Women engagiert sich weltweit in vielfältiger Weise, um die Situation von Frauen und Mädchen in Corona-Zeiten zu verbessern. Die Maßnahmen reichen von der genderspezifischen Beratung für Regierungen bis zu ganz konkreten Projekten, sei es in Bezug auf Gewaltprävention, die Bereitstellung von Schutzräumen oder den Zugang zu lebenswichtigen Dienstleistungen. Hier sind vor allem die Bereiche Gesundheit, Polizei und Justiz zu nennen, sowie die Unterstützung von Helplines und andere Hilfsangebote für Betroffene.
Ganz konkret: In El Salvador etwa verteilt UN Women in Kooperation mit anderen UN Organisationen Hygiene-Pakete für Frauen, die in häuslicher Quarantäne sind. Das hört sich banal an, ist aber für viele essenziell, denn wenn das Geld knapper wird, dann wird in den Haushalten besonders an diesen Dingen gespart.
Wir von UN Women Deutschland haben außerdem in den Sozialen Medien und auf unserer Webseite einen Spendenaufruf für unseren Corona-Nothilfefonds gestartet, denn all diese Maßnahmen müssen auch finanziert werden. Da kann jede und jeder von uns helfen!
Spenden für den Corona-Nothilfefonds von UN Women? Das geht HIER!
Über Dr. Ursula Sautter
Dr. Ursula Sautter ist stellvertretende Vorsitzende von UN Women Deutschland. Nach 14 Jahren als Deutschland-Korrespondentin für das amerikanische TIME Magazine arbeitet sie seit 2012 für den Hildegardis-Verein, den ältesten Verein für die Förderung von Frauenstudien in Deutschland. 2020 kandidiert sie für den Stadtrat in ihrer Heimatstadt Bonn, um insbesondere Frauen-, Inklusions- und Bildungsthemen zu vertreten.