Die Allround-Künstlerin Judith Kuckart (65) ist seit Jahrzehnten als Tänzerin, Choreografin, Regisseurin und Schriftstellerin unterwegs. 2021 brachte sie ihre 1986 gegründete, anarchisch-feministische Tanztruppe unter dem Namen Skoronel Reloaded erfolgreich zurück auf die Bühne – zum Teil mit Kolleginnen aus ihrer Altersgruppe. Zudem erschien in diesem Jahr ihr zwölfter Roman. HEYDAY sprach mit Judith über ihre nimmermüde Schaffenskraft…
„Meine Energie ist wohl Veranlagung.
Früher nannte man das mal ‚Hummeln im Arsch‘”
HEYDAY: Liebe Judith, in deinem neuen Buch Die Welt zwischen den Nachrichten erkennt die Protagonistin, dass sie „noch 20 grandiose Sommer vor sich hat.“ Was hast du in den nächsten 20 Sommern vor?
Solange ich gesund und noch bei Sinnen bin, einfach heiter weitermachen wie bisher. Ich arbeite in diesem Jahr an zwei Theaterproduktionen, für das nächste sind ebenfalls zwei geplant. Ich mag es sehr im Team zu arbeiten, was am Theater ja immer der Fall ist. Ein schöner Gegensatz zu der einsamen Schreibtischarbeit als Autorin.
Du bist unglaublich produktiv. Woher nimmst du die Energie?
Meine Energie ist wohl Veranlagung. Früher nannte man das mal ‚Hummeln im Arsch‘“. Diese Dinge, die ich beruflich mache, sind ja sehr unterschiedlich. Mal bin ich auf der Bühne, mal lebe ich sehr zurückgezogen, und das befruchtet sich wunderbar gegenseitig. Durch dieses nach innen Gehen am Schreibtisch und das nach außen Gehen im Sport oder bei der Theaterarbeit entsteht eine konstante, gute Spannung, die es braucht, um produktiv zu sein. Das ist das Gute daran, wenn die Dinge in unterschiedliche Richtungen gehen.
Warum hast du dich neben Tanz und Theather auch noch dem Schreiben gewidmet?
Ich schreibe, weil ich Geld verdienen muss und weil ich sterben muss. Es ist immer ein sehr kleiner Beleuchtungskreis, den man beim Schreiben im Fokus hat, aber es geht auch darum, eine Zeitgenossin zu sein, die verschiedene politische Verhältnisse miterlebt hat. Es ist nur ein kleines Licht, aber es hilft dabei, sich mit sich selbst zu verständigen und wach zu bleiben.
„Beim Schreiben geht es auch darum, eine Zeitgenossin zu sein, die verschiedene politische Verhältnisse miterlebt hat”
Du sagtest einmal, dass du etwas zu vererben hast – und zwar die Erkenntnis: „Haltung gibt Halt“. Was genau meinst du damit?
Der Satz gilt natürlich für alle, die mal getanzt haben. Eine Haltung verändert alles. Wie man zum Beispiel in einen Raum, in eine Situation hineingeht – das hat immer einen Impakt. Wer mit Haltung und Rückgrat ausgestattet durchs Leben geht, mental und physisch aufrecht, hat einen extremen Halt. Das ist eine Erfahrung, die wir alle hier gemacht haben. Tänzerin bleibt man für immer. Das ist wirklich eine Art Einschreibung.
„Tänzerin bleibt man für immer“ weiß Judith Kuckart, die mit ihrem Tanztheater Scoronel seit Jahrzehnten die Bühnen der Welt bespielt
(Foto: Burkhard Peter)
„Wer mit Rückgrat ausgestattet durchs Leben geht, mental und physisch aufrecht, hat einen extremen Halt“
Wie erhält man sich die Disziplin, wenn man älter wird?
Das weiß ich nicht. Das ist wie eine Charakter-Eigenschaft, die man schon immer hatte und einfach behält. Durch die jahrzehntelange Übung beim Tanzen bleibt man wohl ein disziplinierter Mensch.
In deiner Inszenierung Scoronel Reloaded ging es um Themen wie Mager- und Alkoholsucht, Traurigkeit und ökonomische Probleme. In diesem Kontext hast du deine teilweise zwischen 50- bis über 70-jährigen Kolleginnen als kraftvoll und energisch, aber auch als verletzbar beschrieben…
Ja, es ist ein prekärer Zustand. Wir, die am Theater gearbeitet und getanzt haben, wussten immer, dass es ab einem gewissen Alter wirtschaftlich herausfordernd sein wird. Jetzt merken wir es. Es gibt aber einen starken Zusammenhalt untereinander. Wir versuchen einander zu helfen, Produktionseinheiten zu schaffen, aktiv zu bleiben in der Vernetzung. Auch mit Jüngeren. Wichtig ist auch die Vernetzung mit ganz anderen Lebensbereichen. Ich habe zum Beispiel lange als Ehrenamtliche bei der Telefonseelsorge gearbeitet. Dort habe ich gelernt, wie wichtig es ist, zuzuhören. Ja, zuhören, Zeit miteinander verbringen – nicht Ratschläge geben.
Ein Wendepunkt in deinem Leben war der Kommentar „Sie tanzt zwar gut, aber hätte sie sich nicht die Beine rasieren können?“ Da wurde dir klar, wie ausgestellt man sich im Scheinwerferlicht fühlen kann. Hat sich dieses Gefühl im Verlauf deines Lebens verändert?
Ja, was die kleine Bühne anbelangt, auf jeden Fall. Ich lese inzwischen sehr gerne vor, auch vor Publikum. Wenn ich meine eigenen Bücher vorstelle, gibt es im Gegensatz zur Theaterarbeit den Text, der sich schützend zwischen das Publikum und mich schiebt. Das macht den Unterschied. Der Text beweist, dass ich in Formen denke und keinen Seelenstriptease mache. So wie jetzt geschehen in meinem neuen Roman Die Welt zwischen den Nachrichten.
Jede Menge Leselust
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Du sagtest einmal, ohne deine Mentorin – eine wichtige Figur in deinem aktuellen Roman – wärst du nicht da, wo du bist. Als du ein Kind warst, hatte sie deinen Handstand gesehen und dir geraten, Ballett zu machen, zu lesen und ins Theater zu gehen. Welchen Weg hatten deine Eltern für dich vorgesehen?
Meine Mutter hätte es gerne gesehen, wenn ich Lehrerin geworden wäre. Das wäre ein sozialer Aufstieg gewesen. Alleinstehend, finanziell abgesichert und mit einem schicken Appartement mit Müllschlucker in der Wand, damit ich den Abfall nicht jeden Tag herunterbringen muss. Das war ihre Vorstellung von einem guten Leben für mich.
Hast du im beruflichen oder privaten Umfeld schon mal Altersdiskriminierung erlebt?
Eine 76-jährige Freundin hat kurz vor Erscheinen meines Romans zu mir gesagt: „Kannst du nicht mal aufhören zu schreiben, du hast doch schon genug veröffentlicht.“
Gab es in deinem Leben Dinge, die auf der Strecke blieben, und denen du jetzt mehr Raum gibst? was möchtest du noch erreichen?
Ja, es sind Menschen auf der Strecke geblieben. Ich würde schon gerne einige von früher mal wiedersehen. Sehen, wo sie jetzt im Leben sind und mich mit ihnen darüber beraten, ob wir tatsächlich noch 20 grandiose Sommer vor uns haben…
Mehr über Judith Kuckart
Judith wuchs im Ruhrgebiet auf, heute lebt sie in Berlin. Nach ihrem Studium der Literatur- und Theaterwissenschaften an der Freien Universität Berlin sowie einer Tanzausbildung an der Folkwang-Hochschule Essen gründet sie 1984 das Tanztheater Skoronel, mit dem sie 2021 ein Reload inszenierte. Seit 1999 ist sie freie Regisseurin und erhielt zahlreiche Auszeichnungen und Stipendien. 1990 erschien ihr erster Roman Wahl der Waffen, es folgten rund ein Dutzend weitere Bücher. Im August 2024 erschien ihr aktueller Roman Die Welt zwischen den Nachrichten im Verlag DuMont.
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