„Ich habe vor nichts Angst!“

Heiko Richter

Die Künstlerin und Kalligrafin Jeannine Platz, 50, verrät im exklusiven HEYDAY-Interview, wie sie aus ihrem dörflichen Elternhaus ausbrach, um ihrer Leidenschaft nachzugehen. Ganz ohne Strategie und Scheu vor Neuem macht die Wahl-Hamburgerin bis heute stets nur das, auf was sie wirklich Lust hat…

Die Hamburger Künstlerin Jeannine Platz im HEYDAY-Interview 2021. Foto: Heiko Richter

Die Bilderserie mit Jeannine Platz ist Teil des Kunstprojekts DER WEISSE STUHL von Fotograf Heiko Richter. In seiner stetig wachsenden Serie stellt der Künstler einen weißen Stuhl ans Set und überlässt den Protagonist:innen die Szenerie. Die so entstandenen Aufnahmen aus verschiedensten Blickwinkeln kann man HIER auf seinem Instragram-Account betrachten.

Die Hamburger Künstlerin Jeannine Platz im HEYDAY-Interview 2021. Foto: Heiko Richter

HEYDAY: Liebe Jeannine, was ist der erste Berufswunsch, an den du dich erinnern kannst?

Jeannine Platz : Ich wollte tatsächlich schon immer Künstlerin werden und habe großes Glück, das machen zu können, was mich erfüllt.

Kannst du dich noch daran erinnern, wann du dein erstes Bild verkauft hast?

Das war ganz verrückt. Ich habe damals in einer Mädchen-WG gewohnt und hatte gerade einen Akt in 30 Sekunden gemalt, das ging ganz zackig. Plötzlich war ein Geschäftsmann in der WG – ich weiß bis heute nicht, woher der kam – und fragte, was das Bild kosten würde – und ich habe aus Spaß 2500 Mark gesagt. Daraufhin zückte der sein Portemonnaie, legte das Geld auf den Tisch, und erklärte: „Das kommt in mein Büro“. Ich war total überwältigt. Aber er ist mit dem Bild happy losgezogen und ich war happy über das Geld. Normalerweise arbeitet man sich als Künstlerin ja hoch, aber das war mein Start – und ich habe nie wieder ein Bild unter diesem Preis verkauft.

Du lebst und arbeitest in Hamburg – die Liebe zu dieser Stadt findet sich in deinen Bildern wieder. Gebürtig kommst du aber aus der Nähe von Hannover…

Genau. Dort habe ich mich aber nie wohlgefühlt. Als ich mit 27 über die Elbbrücken nach Hamburg kam, hatte ich das Gefühl, dass mich die Stadt in die Arme nimmt. In diesem Moment wusste ich: Hier ist jetzt mein Zuhause! Das werde ich nie vergessen und deswegen bin ich auch so verbunden mit dem Hafen. Dort hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass ich angekommen bin – und das ist bis heute so geblieben.

Hast du einen Lieblingsplatz in Hamburg?

Der Hafen. Er ist einfach ein magischer Ort und für mich das Tor zur Welt. Ich bin ein Freiheitsmensch, kann nicht so lange an einem Ort bleiben und muss immer mal wieder raus. Am Hafen gibt es diese Dynamik vom Kommen und Gehen. Außerdem bin ich der Weite ganz nah.

„Ich bin ein Freiheitsmensch, kann nicht so lange an einem Ort bleiben und muss immer mal wieder raus“

Wie war das Leben in deinem Elternhaus?

Ich habe mich immer als Exotin gefühlt und war auf der Suche nach einer Welt, die mich versteht und die ich verstehe. Schließlich habe ich sie mir selbst erschaffen – mit Seelenverwandten. Meine Eltern sagten immer: „Kind, du bist irgendwie von einem anderen Stern.“ Damals tat das ein bisschen weh, aber heute muss ich darüber lachen und denke: Ja, so ist es! Zum Glück!

Die Hamburger Künstlerin Jeannine Platz im HEYDAY-Interview 2021. Foto: Heiko Richter

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Das war bestimmt hart – gerade die Familie sollte ja ein sicherer Hafen sein.

Wenn ich jetzt Familien sehe, bei denen das so ist, dann geht mir das Herz auf. Wenn die Kinder alles machen können, was sie wollen und die Eltern hinter den Entscheidungen der Kinder stehen, dann hüpft mein Herz. Aber durch all meine Erlebnisse und die Erfahrungen, die ich gemacht habe, bin ich zu dem Menschen geworden, der ich heute bin – und ich bin für alles dankbar.

„Das war schon immer so: Ich weiß nie, wohin ich gehe – aber ich tanze los!“

Wie ist das jetzt für dich als Erwachsene?

Bei uns herrscht eine Art Anarchie – in meiner eigenen Familie darf jeder machen, was er will! Der Familie vom Papa meiner Kinder haben zwar auch verschiedene Charaktere, aber sie kommen zusammen und es wird diskutiert und sie lieben einander dafür, dass sie unterschiedlich sind. Ich halte es für wichtig, dass jeder die eigene Meinung vertreten darf, seine Potentiale entfalten und sich nach eigener Vorstellung ausleben kann – und gerade deswegen geliebt wird. Diese Einstellung gebe ich auch an meine Kinder weiter: Sie dürfen machen, was sie wollen, müssen aber auch die Verantwortung und die Konsequenzen für ihr Verhalten tragen. Ich erkläre meinen Kindern natürlich die Regeln und zeige im Vorfeld die Konsequenzen auf, sodass sie verstehen: Es gibt im Leben Ursache und Wirkung.

Bist du deinen Töchtern ein gutes Vorbild?

Es ist so spannend, wie meine Töchter diskutieren. Sie sind 14 und 16 Jahre alt und machen das, was ich als Kind nie tun konnte: Sie reden mit mir, ihrer Mutter, auf einer Ebene. Und ich nehme sie voll und ganz ernst. Was gibt mir denn das Recht, auf meiner Meinung zu beharren, nur weil ich älter bin? Jeder wird bei uns ernst genommen und hat eine Stimme.

Welche Vorbilder hast du dir als Kind gesucht?

Ich habe mich in der Kunst gefunden. Ich habe immer meine Hände benutzt – beim Schreiben, Malen und vollgekritzelten Tagebüchern, aus denen ich richtige Kunstwerke gemacht habe. Das war mein Anker. Ich habe gelernt, dass ich aus mir selbst heraus schöpfen kann, und dass ich angebunden bin ans Universum. Ich habe mir in der Kunst meine eigene Welt geschaffen. Mein eigenes Reich. Ich besaß alles, was ich brauchte. Aber ich bin sehr froh, dass ich es geschafft habe, mich freizumachen. Viele können das nicht. Sie leben dann dieses vorgelebte Leben, aber merken ganz tief im Inneren, dass irgendwas nicht passt, trauen sich aber nicht, etwas zu verändern.

Angst ist ja bekannterweise ein schlechter Ratgeber.

Ich habe vor nichts Angst. Vor gar nichts. Hatte ich auch noch nie.

Wirklich? Dir fällt keine einzige Situation ein, in der du Angst hattest?

Ich bin einmal fast ertrunken. In dieser Situation war ich schon sehr besorgt, allerdings weniger um mich selbst, sondern wegen meiner Kinder. Sie wären dann ja ohne Mutter aufgewachsen.

Was ist da passiert?

Ich war in Rio und bin morgens um halb acht durch die Wellen getaucht. Drei Wellen habe ich genommen und bin immer weiter raus. Doch dann kam ich nicht mehr zurück. Ich bin eine sehr gute Schwimmerin und konnte richtig mit Kraft gegen halten, aber es hat nicht gereicht. Aber ich weiß nicht, ob das wirklich Angst war, was ich gespürt habe. Ich war eher traurig, weil ich dachte: Jetzt verlieren die Kinder ihre Mutter. Aber dann habe ich losgelassen und plötzlich hatte ich sogar ein schönes Gefühl, ganz warm. Eigentlich war es fast eine Nahtoderfahrung. Es hat nicht viel gefehlt. Ich wurde plötzlich ganz leicht und ich weiß auch noch, wie wohl ich mich plötzlich fühlte. Und genau diese Leichtigkeit hat mich schließlich ans Ufer gespült – sofort kamen die Baywatch-Leute und haben mich rausgeholt. Das war schon eine doofe Situation, aber es ist ja gerade noch gut gegangen. Ich habe immer wieder Glück im Leben: Ich war schon oft so auf der Kante und am Abgrund, mehrmals wurde es brenzlig. Aber ich habe solche Situationen immer erst im Nachhinein als gefährlich empfunden, als ich merkte, dass doch wieder alles gut gegangen ist – wenn auch manchmal knapp.

„Das habe ich in meinem Leben gelernt: Das Leben meint es immer gut mit einem“

Woher nimmst du dieses Urvertrauen?

Ich weiß einfach: Was ich mir vornehme, schaffe ich immer. Ich weiß meistens zwar nicht wie, aber ich fange einfach mal an! So ist das auch bei meiner Arbeit. Wenn man Freude an etwas hat, ergibt sich der Erfolg! Ich mache immer das, was gerade so aus mir rauskommt, das worauf ich Lust habe. Der Rest entwickelt sich anschließend. Aber ich frage mich in dem Moment nicht, was ich davon habe. Manchmal entsteht auch einfach eine Vision, die kommt von irgendwo her und dann geht man ihr nach – und auf dem Weg dahin ergibt sich alles andere. Das ist das Schöne, finde ich.

Das war bei meinem Weltreise-Projekt auch so. Am Anfang wollte ich nur von einem hohen Gebäude aus die Welt sehen. Dann habe ich in einem Hotel von oben heraus den Ausblick gemalt. In diesem Moment habe ich nicht daran gedacht, dass ich in den nächsten zwei Jahren eine Weltreise machen würde. Aber es war so schön, von oben die Welt anzugucken, dass ich gleich ins nächste Hotel fuhr, und dann ins nächste, und so fort… So kam eins zum anderen. Plötzlich waren 55 Bilder entstanden und ich konnte im Hotel The Westin Hamburg eine Ausstellung gestalten. Aber geplant war das nicht.

Wie hast du es geschafft, eine zweijährige Weltreise in deinen Alltag zu integrieren?

Das war ganz einfach, weil ich immer nur kurz unterwegs war – nur an Wochenenden, oder bei längeren Distanzen maximal eine Woche lang. In Sydney zum Beispiel. Meine Kinder kennen es gar nicht anders, denn auch schon vor dem Weltreise-Projekt bin ich immer wieder losgezogen. Meine Kinder haben von Beginn an gelernt, dass ich immer wieder nach H ause komme.

Was muss unbedingt im Koffer sein, wenn du auf Reisen gehst?

Ich nehme sehr gerne meine Schreibfeder und ein Tintenfass mit und oft auch Farben. Ich liebe meine Arbeit, die Arbeit ist mein Leben, da gibt es keine Trennung.

Die Hamburger Künstlerin Jeannine Platz im HEYDAY-Interview 2021. Foto: Heiko Richter

Was macht einen Ort für dich zu einem Zuhause?

Also am liebsten habe ich es, wenn es keine geschlossenen Türen gibt. So ist das auch bei mir Zuhause. Die Türen sind immer offen, auch die Balkontür und die Haustür, und jeder der mag, kann reinkommen – und das machen die Leute auch. Diese Offenheit zu allen Seiten hin brauche ich einfach. Ansonsten benötige ich eigentlich nur einen Raum, aber er sollte ein großes Fenster haben – ich muss den Himmel sehen können.

Abgesehen davon muss ich mich einfach wohlfühlen. Einmal bin ich zu einem Freund gezogen und habe gemerkt, dass da etwas nicht stimmt, also bin ich nach zwei Wochen wieder ausgezogen. Wenn ich mich nicht zu hundert Prozent Zuhause fühle, dann bin ich sofort weg. Das habe ich in meinem Leben gelernt: Ich mache keine halben Sachen und keine Kompromisse mehr. Und da, wo ich jetzt bin, da fühle ich mich richtig wohl. Aber auch da weiß ich: Hier bin ich nicht ewig. Wenn die Kinder aus dem Haus sind, dann wird für mich eine Zeit kommen, in der ich wieder los muss. Mal gucken, wohin! Vielleicht werde ich auch zwei Orte haben – einen hier in Hamburg und eine Dependance irgendwo anders. Vielleicht lege ich aber auch das Atelier mit meiner Wohnung zusammen. Auf jeden Fall habe ich überall in der Welt noch Ankerpunkte!

Woher ziehst du deine Energie?

Das ist ein Kreislauf bei mir. Wenn ich kreativ bin, dann fühle ich mich wie angeschlossen an eine Steckdose und bekomme ständig Energie. Dadurch kann ich dann auch wieder etwas geben – das bedingt sich gegenseitig.

Was hast du aktuell gerade geplant?

Ich habe eine Vision, aus der vielleicht eine neue Ausstellung wird. Es beginnt gerade: Ich male Wolken. Eine Freundin hat dafür den Titel gefunden. Das Gute am Älterwerden ist, dass ich jetzt weiß: Es klappt alles! Früher hatte ich ja noch keine Erfahrungen. Aber jetzt weiß ich, dass ich keine Angst haben muss. Denn wenn man Vertrauen hat, dann wird alles super! Ich mag das Gefühl, wenn man nicht weiß, was kommt. Jemand hat mir mal gesagt: „Springe und das Netz wird erscheinen.“

Wir warten gespannt auf deine nächsten Projekte! Vielen Dank für dieses spannende Gespräch, liebe Jeannine.

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Die Hamburger Künstlerin Jeannine Platz im HEYDAY-Interview (2021)
Foto: Tine Lipski

Über Jeannine Platz

Die Malerin, Kalligrafin und Performance-Künstlerin Jeannine Platz (50) ist auf internationalem Terrain genauso zuhause wie in ihrer Wahlheimat Hamburg. Bekannt wurde sie durch ihre ausdrucksstarken Hamburger Hafenbilder, den unverkennbaren Schwung ihrer virtuosen Schrift und ihr weltweites Kunstprojekt Suite View. Alle Gemälde des Projektes vereint das Coffee Table Book Suite View – World’s most spectacular skylines, erschienen bei Gudberg Nerger.

Mehr Impressionen gibt es auf Jeannines Homepage und ihrem Instagram-Account!

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