Was tut sich so bei den Mitgliedern unserer Community? HEYDAY-Leserin und Gastautorin Andrea Scheurer (55) berichtet hier über ihre ganz persönliche Balance zwischen Arbeit, Freizeit und kreativen Momenten – sie erklärt, warum ihr das Schreiben so viel bedeutet und wie man sich damit auf phantastische Reisen begeben kann
Wenn ich mir so überlege, wie lange wir jetzt schon daheimbleiben, dann frage ich mich, wieso ich in dieser Zeit nicht produktiver gewesen bin. Wieso ich nicht Berge von Socken und Handschuhen gestrickt, natürlich mit fünf Nadeln, oder einige Röcke genäht oder ganze Bücher geschrieben habe. Natürlich fällt mir dazu auch spontan eine Antwort ein: weil ich einen Vollzeit-Job habe und nach dem Nachhausekommen meistens ziemlich ausgelaugt gewesen bin, wodurch ich meine Kreativität blockiert fühlte. Also habe ich vor kurzem, nicht nur aus diesem Grund, meinen Job gewechselt. Ich wurde von der Chefin zur Angestellten einer Behörde, die ihre neuen Mitarbeitenden intensiv einarbeitet.
Und so komme ich in den Genuss einer Zeit, in der ich zwar sehr viel lernen, viele neue Menschen treffen und mich in ein neues System einfügen muss, habe aber auch die Gelegenheit nach Feierabend nicht so zermürbt und abgeschlagen wie zuvor nach Hause zu kommen und nun meine Kräfte und meine Kreativität tatsächlich in etwas Produktives umwandeln zu können. So habe ich beispielsweise einige Variationen meiner Führungen über den Hauptfriedhof meiner Heimatstadt erarbeitet, die dann als Online-Führungen angeboten und gebucht wurden. Das war eine sehr aufregende Sache. Lampenfieber vorher, Müdigkeit im Anschluss, Flow mittendrin und viele zufriedene Zuschauer. Diese freuten sich über meine z. T. karnevalistisch gereimten Texte und ich kam bei dieser Vorarbeit meiner Lieblingsbeschäftigung ein Stück näher – dem Schreiben.
Einen Großteil meiner freien Zeit verbringe ich mit Schreibübungen. Im vergangenen Jahr habe ich die Bekanntschaft mit dem Schreiben – vor allem mit dem biografischem Schreiben – gemacht und einige Bücher gefunden, in denen eine Reihe von Übungen dafür vorgestellt werden. Und wenn das Wetter noch nicht einmal Spaziergänge zulässt und, so wie heute, der Regen an die Scheibe prasselt, tut es gut einen Stift in die Hand zu nehmen und loszuschreiben. Wenn ihr euch mit dem Schreiben beschäftigen wollt, hilft es, das Werkzeug aufmerksam auszuwählen.
Der Stift z.B. sollte euch zufrieden machen, er sollte gut in der Hand liegen, sich beim Schreiben gut anfühlen und eure Hand und eure Schrift zu einer Einheit verbinden. Ich schreibe am liebsten mit Bleistiften. Davon habe ich immer vier frisch gespitzt neben meinem Schreibheft liegen.
Auch das Papier, auf dem ihr schreibt, will wohlausgesucht sein. Wählt eine Linierung und ein Format aus, mit dem ihr euch wohlfühlt, einen Block oder ein Heft aus einem Papier, das sich auf euren Stift freut. Mir sind Hefte mit Karos am liebsten, am allerliebsten diese tollen französischen Karos in den Heften von Claire Fontaine, die es aber leider nicht in jedem Schreibwarenladen gibt. Das ist mir auch wichtig, Hefte und Stifte im Schreibwarenladen zu kaufen, nicht online. Ich muss meine Schreibsachen anfassen, bevor ich sie kaufe. Sie müssen passen und ich muss mich, wie gesagt, mit ihnen wohlfühlen.
Wenn ihr dann alles beisammen habt, was ihr zum Schreiben benötigt, wobei ihr nichts mit in die Runde dazuholen solltet, das nichts mit dem Schreiben zu tun hat, kann es los gehen.
Mein Tipp: Ihr stellt einen Timer auf zehn Minuten und schreibt los. Ohne zu planen, schreibt ihr einfach alles auf, was euch in den Kopf kommt und wenn euch nichts einfällt, dann schreibt ihr das eben: „Mir fällt nichts ein, mir fällt nichts ein …“. Es kommt nicht darauf an, dass ihr etwas besonders Kluges schreibt oder dass eure Worte besonders schön klingen; wichtig ist nur, dass ihr schreibt. Zehn Minuten lang. Und es ist auch unwichtig, ob ihr Rechtschreibfehler oder Zeichenfehler macht. Das ist ganz egal. Einfach nur schreiben. Ohne Pause. Lasst die Wörter aus dem Stift fließen. Lesen könnt ihr hinterher.
Die zehn Minuten sind für den Einstieg. Wenn ihr euch dabei sicherer fühlt, stellt ihr den Timer auf 20 Minuten und probiert euch an einem Thema aus. Setzt eine Überschrift an den Anfang einer Seite, wie z.B. „Meine Füße“ und schreibt zwanzig Minuten darüber. Wie sie aussehen, wie sie sich beim Gehen anfühlen, wie sie sich beim Rennen anfühlen, wie sie sich im Laufe der Jahre verändert haben, wie es sich anfühlt, wenn ihr sie streichelt und wie es sich anfühlt, wenn sie jemand anderer streichelt. Schreibt darüber, ob ihr Hornhaut habt und wie eure Zehennägel aussehen. Ob ihr sie lackiert, ob ihr zur Fußpflege geht, ob ihr eure Füße schön findet. Oder ob jemand anderer eure Füße schön findet.
Wenn ihr euch erstmal eingefunden habt in das Thema, werden die 20 Minuten wahrscheinlich viel zu kurz sein. Seid da aber konsequent und hört auf zu schreiben, wenn der Timer das Zeichen dazu gibt. Nehmt dazu wirklich einen Zeitmesser, der euch ein akustisches oder ein optisches Signal gibt, aber lest nicht einfach die Zeit an einer Uhr ab. Das lässt euch unkonzentriert sein, da ihr immer wieder zur Uhr schaut um den Zeitpunkt zum Aufhören nicht zu verpassen. Das Ziel aber ist es, sich möglichst ganz im eigenen Text zu verlieren. Wenn ihr nicht über eure Füße schreiben wollt, so schreibt über eure Hände, eure Haare, eure Brüste. Ihr müsst natürlich nicht nur über euren Körper schreiben, ihr könnt auch zunächst über Gegenstände, die euch wichtig sind, schreiben oder über Ereignisse in eurem Leben. Gebt auch hier wieder dem Text eine Überschrift, z. B. „mein erster Tag in der Ausbildung“ oder „mein erster Arbeitstag“ oder „mein letzter Liebeskummer“ und schreibt wieder 20 Minuten darüber.
„Beim Schreiben werdet ihr merken, dass euch Gedanken zufliegen, die ihr nicht vorbereitet habt, die also direkt aus eurem Unterbewusstsein zu kommen scheinen”
Beim Schreiben werdet ihr merken, dass euch Gedanken zufliegen, die ihr nicht vorbereitet habt, die also direkt aus eurem Unterbewusstsein zu kommen scheinen. Vielleicht verwundert euch das oder erschreckt euch sogar, aber lasst es zu. Auch wenn es sich dabei um schmerzhafte Gedanken handelt, die euch sogar zum Weinen bringen, schreibt weiter. Wenn euch das Konzentrieren und das Formulieren dabei schwerfällt, dann schreibt von eurem Schmerz und eurer Unkonzentriertheit. Schreibt, dass ihr gerade weint und warum, oder dass ihr nicht wisst warum und was euch dabei schmerzt. Erlaubt euch alles zu denken und alles zu schreiben; urteilt nicht dabei, auch später nicht, wenn ihr mit eurer Übung fertig seid.
Man nennt diese Art des Schreibens „automatisches Schreiben“ und es wird besonders für die Zeit gleich nach dem Aufwachen empfohlen. Da soll die Verbindung zum Unterbewusstsein noch besonders aktiv sein und die Erinnerung an Träume noch frisch. Vielleicht gelingt es euch einige Tage am Stück, ganz bei euch zu sein und die Zeit nur mit Schreiben zu verbringen. Dabei ist die Beschäftigung mit der eigenen Biografie so intensiv, dass man oft auch sehr lebhaft träumt und sich anschließend daran erinnern kann. Manchmal klärt sich durch das Träumen so manche Frage oder so manches Thema.
Beim Schreiben werdet ihr merken, dass ihr nicht immer beim Thema bleibt, sondern auch durchaus manchmal abschweift. Lasst euren Gedanken die Freiheit, die sie sich gerade nehmen und folgt ihnen mit dem Stift. Schaut neugierig, wohin sie euch führen und wo euer Text am Ende landet. Wenn ihr mögt, könnt ihr die Parameter verändern. Lasst euch mehr Zeit, verlasst den Schreibtisch, verlasst die Wohnung und schreibt, wo ihr wollt und wo es für euch passt, in Parks, in Kirchen, irgendwo mitten in der Stadt. Nehmt die Atmosphäre dieses Ortes in eurem Text auf und gebt dem Text so die Chance zu wachsen.
Ich schreibe z. B. gerne draußen im Freien, wo es naheliegt, die Landschaft, die mich umgibt zu beschreiben. Dann komme ich mir vor wie ein Landschaftsmaler, der nicht nur die Landschaft selbst sieht, sondern auch, das, was sie geprägt hat. Die Jahreszeiten z. B. oder das Wetter, und ich stelle mir dann vor, wie diese Landschaft im Winter oder bei Regen aussieht und schreibe darüber. Handelt es sich um eine Kulturlandschaft, so stelle ich mir die Arbeiter in dieser Landschaft vor. Schreibt man in einer Stadt, so kann man die Menschen beschreiben, die vorübergehen oder man schreibt über die Farben des Asphalts. Tatsächlich gibt es viele Farbtöne für Straßenbeläge und Unternehmen, die damit ihr Geld damit verdienen, diese Farben herzustellen. Wenn ihr alles in eurer Umgebung beschrieben habt, dann begebt euch auf phantastische Reisen. Lasst eure Gedanken frei und stellt euch vor, euer Hund würde für euch zur Arbeit gehen oder eure Tochter wäre Bundespräsidentin. Gönnt euch den Spaß und blödelt mit Worten und wenn ihr lachen müsst, dann tut es.
„Lasst euren Gedanken die Freiheit, die sie sich gerade nehmen und folgt ihnen mit dem Stift. Schaut neugierig, wohin sie euch führen”
Nehmt die Gefühle, die beim Schreiben erwachen, offen an. Sie geben euch Hinweise, wo es lohnt, genauer hinzuschauen. Vielleicht gibt es da Themen, mit denen ihr noch nicht fertig seid. Beim biografischen Schreiben habt ihr die Chance, diese Themen zu entdecken und mit ihnen zu arbeiten. Vielleicht macht sich ein Thema bemerkbar, das sehr schmerzhaft ist und das euch dann sogar eine Weile begleitet; etwas, was durch das Schreiben geweckt oder ausgegraben wurde. Zögert nicht, euch dabei unterstützen zu lassen, wenn ihr Unterstützung braucht. Ihr könnt euch diesen Themen auch bewusst stellen. Formuliert Fragen zu euren Themen und lasst eure Gedanken und damit den Stift fließen und schaut, wohin es führt.
Wenn ihr genug allein geschrieben habt und ihr würdet gerne eure Gedanken und Worte teilen, oder mit denen von anderen Menschen zusammenbringen, dann setzt euch virtuell zusammen und schreibt gemeinsam über Skype oder Zoom oder Google Meet oder was auch immer – tauscht euch aus, inspiriert euch gegenseitig! Schreibt Patchwork-Texte. Gebt euch gegenseitig Satzanfänge und lasst diese von anderen beenden. Vermischt Textbausteine, gebt euch Stichworte, bastelt Assoziationsketten und nutzt sie als Basis für eure Texte. Denkt euch gemeinsam Geschichten aus, sinniert über skurile Fragen. Schreibt dramatisch, schreibt absurd oder sogar Dada. Tobt euch aus. Und freut euch an euren Texten, immer und immer wieder. So lange, bis ihr merkt, dass es euch guttut. Und wenn ihr wollt, schickt mir eure Texte und lasst mich an eurer Schreiblust teilhaben.
HEYDAY-Leserin Andrea Scheurer (55) ist eine unserer Gastautorinnen und arbeitet hauptberuflich als Teamleiterin – sie unterstützt Menschen bei der Arbeitssuche. Nebenberuflich führt Andrea, die mit ihrem Mann und einer Katze auf dem Land lebt, als Tourguide Gäste auf Pfaden abseits vom Mainstream durch ihre Heimatstadt. Auch sonst bewegt sie sich gerne auf neuen Wegen: Mit über 50 hat sie zum ersten Mal einen Kurs für Pole-Dance besucht, stand auf einem Surfbrett und probierte Apnoe-Tauchen aus. Ihre Erlebnisse und Erfahrungen nennt sie „kleine Abenteuer“, ihre Lebenseinstellung ist geprägt von Zuversicht und einem Blick für Details – das zeigen auch auf ihre Fotos, die sie bei Instagram veröffentlicht.