Exklusiv auf HEYDAY: Jeden Monat teilt Autorin und Aktivistin Romy Stangl (49) in ihrer Kolumne Gedanken über das aktuelle Zeitgeschehen und persönliche Erlebnisse. Diesmal geht es um das Streben nach weiblicher Stärke, falsche Selbsteinschätzung, und wie sich starke Frauen oft selbst im Weg stehen
Weiblich und stark sein? Geht das überhaupt? Spoiler-Alarm: Na klar! Aber hallo!
Was aber bedeutet das genau? Gibt es eine Schablone? Und wenn ja, passe ich dort hinein? Moment mal! Solche Fragen sind doch absolut überholt. Dürfen wir darüber überhaupt noch nachdenken? Schliesslich ist es 2021 und wir wollen doch immer schön politisch korrekt bleiben. Dann nehmen wir vielleicht sicherheitshalber die Meinung aller anderen an. Nur, damit keiner schlecht von uns denkt, nur damit wir uns selbst nicht zu viele Sorgen machen müssen, nur damit jemand anderes für uns entscheidet. Vielleicht.
Das Problem ist, dass ich genau damit schon immer meine Schwierigkeiten hatte. Meine Natur, mein „zu-laut-sein“, wie es manch eine*r bezeichnet, will sich einfach nicht anpassen. Ich bin eine Frau. Aber in eine Schablone passe ich nicht. Erst recht nicht in eine, die von althergebrachten Klischeebildern und gesellschaftlichen Erwartungszusammenhängen geformt wurde. Ich bin ich.
Oft werden starke Frauen, die Erfolg haben und auf eigenen Beinen stehen, misstrauisch beäugt. „Die kann das nur machen, weil sie keine Kinder hat.“, tuscheln die weiblichen Kolleginnen
Wenn du an eine starke Frau denkst, welches Bild kommt dir in den Sinn? Du siehst sie vielleicht als mutig und furchtlos. Voller Selbstvertrauen weiß sie genau wer sie ist. Sie weiß immer, was zu tun ist und sie tut immer das Richtige. Sie ist in allen Bereichen erfolgreich und du schaust zu ihr auf, aber du hast Angst, dich ihr zu nähern, weil du meinst, dass du nicht mithalten kannst. Außerdem, was könntest du überhaupt mit ihr gemeinsam haben? Sie ist perfekt.
Oft werden starke Frauen, die Erfolg haben und auf eigenen Beinen stehen, misstrauisch beäugt. „Die kann das nur machen, weil sie keine Kinder hat”, tuscheln die weiblichen Kolleginnen. „Die verhält sich nur so, weil sie mit den Männern mithalten muss“, lästern die Herren in der Runde. Irgendwie beneiden wir sie, die starken Frauen, irgendwie sind sie „cool”, aber irgendwie auch … anders. Manch eine*r findet sie gar irritierend.
Du wünschst dir, du könntest so sein wie sie, aber aus irgendeinem Grund fühlt es sich einfach unmöglich an. Also hältst du dich für schwach. Du hältst dich für eine Versagerin. Du denkst: „Ich kann nie diese Frau sein.“
Und du hast Recht. Das kannst du nicht, denn DU bist DU, du bist einzigartig, mit all deinen Ecken und Kanten, die dich zu einem Rohdiamanten machen – wertvoll und wunderschön in jeder deiner Facetten.
Jeden Tag schlüpfen wir in die verschiedensten Rollen. Am Morgen als Mutter das Frühstücksbrot für das Schulkind bereitlegen, bei der Arbeit die taffe Business-Frau sein, und abends beim Konzert die Haare fliegen lassen. Vergiss Dich selbst hierbei nicht! Wer bist du wirklich unter all diesen Schichten? Jede*r von uns ist einzigartig und jede*r von uns ist stark.
Und überhaupt: Solange wir Frauen in „stark“ und „schwach“ einordnen, bewerten wir andere und folgen damit der toxischen Einstellung unserer Gesellschaft, die uns überhaupt erst hierhergebracht hat.
Wir packen Dinge in Schubladen. So verstehen wir sie besser.
Eine starke Frau ist nicht furchtlos. Sie ist voll von allen möglichen Ängsten
Aber ich glaube, wir haben etwas falsch verstanden. Eine starke Frau ist nicht furchtlos. Sie ist voll von allen möglichen Ängsten. Ängste um ihre Gegenwart und ihre Zukunft. Sie fürchtet um ihre Familie, ihre Freunde und sie fürchtet um ihre Welt. Sie ist ängstlich. Manchmal liegt sie nachts wach und fragt sich, wie sie etwas ändern kann. Sie fragt sich, wie sie sich selbst und die Menschen um sie herum verbessern kann. Sie ist nicht völlig selbstbewusst. Nein, sie ist in der Tat voller Unsicherheiten. Sie macht sich Sorgen, wie sie wahrgenommen wird und ob sie gut genug ist. Sie macht sich Sorgen, ob sie in der Lage ist, ihre Träume zu erreichen. Sie weiß nicht immer, was sie tun soll. In der Tat, die Hälfte der Zeit macht sie es falsch.
Aber der Unterschied zwischen dem, was wir von einer starken Frau wahrnehmen, und dem, was sie tatsächlich ist, ist dieser: Obwohl sie voller Ängste ist, tut sie Dinge, vor denen sie Angst hat. Sie erkennt die Angst an, aber sie lässt sie nicht ihre Entscheidungen bestimmen. Und obwohl es ihr manchmal zu viel wird, beschließt sie, durchzuhalten. Und ja, sie hat viele Unsicherheiten. Aber das ist so, weil sie sich selbst dazu drängt, unbequem zu sein.
Sie bemüht sich, Dinge zu tun, die sie noch nie getan hat, weil sie weiß, dass Wachstum nur dann möglich ist, wenn sie sich traut und ein Risiko eingeht. Sie riskiert, dumm dazustehen, wenn es bedeutet, ihre Ziele zu erreichen. Sie weiß nicht immer, was sie tun soll, aber sie trifft trotzdem die schwierigen Entscheidungen. Sie hofft bei allem, was sie tut, auf das Beste, aber manchmal scheitert sie. Die meiste Zeit scheitert sie. Aber sie versucht es immer wieder.
Sie weiß noch nicht ganz, wer sie ist. Manchmal zweifelt sie an sich und ihren Entscheidungen. Sie versucht, viele Dinge für viele Menschen zu sein, weil sie es sein muss. Sie muss Ehefrau, Mutter oder Tochter sein, Chefin, Angestellte, Freundin. Sie muss hart sein und sie muss eine Ernährerin sein – all diese Dinge und mehr, an EINEM Tag. Aber irgendwie schafft sie es, und sie weiß, dass sie sich selbst findet.
Stück für Stück baut sie ihre Identität auf. Stück für Stück erkennt sie ihr Potenzial und wie stark sie wirklich ist.
Starke Frauen trauen sich zu träumen und anders zu sein. Sie wagen es, gegen den Strom zu schwimmen. Sie wagen es, an Veränderung zu glauben, an die Liebe. Sie wagen es zu glauben, dass sie etwas bewirken können
Wer ist eine „starke“ Frau? Zuerst einmal, wenn wir von „stark“ in Zusammenhang mit Frauen sprechen, ist nur in den seltensten Fällen die physiologische Stärke gemeint. Wir nutzen das Wörtchen vielmehr als Platzhalter für Attribute wie ehrgeizig, erfolgreich, finanziell unabhängig und dominant. Starke Frauen lassen sich nicht die Butter vom Brot nehmen.
Denken wir doch mal an alleinerziehende Mütter, die sich aus häuslicher Gewalt befreien, aus Beziehungen, die sie und ihre Kinder gefährden. Bemerkungen zu diesen „starken“ Frauen, werden häufig aus Mitleid gemacht, weniger aus Bewunderung heraus.
Sie sind Frauen, die oft nach Jahren des Missbrauchs, der seelischen und körperlichen Verletzung ihnen selbst und ihren Kindern gegenüber den Mut aufbringen, diese Beziehung zu verlassen, weil sie es gewagt haben zu glauben, dass sie der Liebe und des Glücks würdig sind. Sie sind Frauen, die allein für ihr Kind oder ihre Kinder sorgen müssen, und meist mehr schultern, als sie eigentlich tragen können. Die Trennung wegstecken, die Kinder über den Verlust trösten und unterstützen, Geld verdienen, Haushalt schmeißen, von der Windel bis zum Schulbuch alles termingerecht auf dem Schirm haben – alleinerziehende Frauen leisten unfassbar viel. Und sie schaffen das alles irgendwie mit wenig bis gar keiner Hilfe.
Denken wir doch mal an Erstgebärende, die trotz lähmender Angst und postpartaler Depression ihre Babys in die Öffentlichkeit mitnehmen, weil sie wissen, dass sie aus dem Haus müssen. Sie wissen, dass es Hoffnung gibt, dass es ihnen besser gehen kann.
Denken wir doch mal an Brustkrebsüberlebende, die sich trauen, ein Kleid zu tragen, obwohl sie sich mit ihrem Körper nicht wohl fühlen. Weil sie es verdienen, sich schön zu fühlen. Weil sie schön sind.
Denken wir doch mal an syrische Frauen, die trotz ihrer Unterdrückung und Misshandlung ihr Leben riskieren, um ihre Stimmen zu erheben, damit andere Frauen frei sein können.
Denken wir doch mal an 50-jährige Frauen, die sich entscheiden, ihren Abschluss zu machen oder zum ersten Mal ihr eigenes Business aufzubauen, das zu leben was sie erfüllt und glücklich macht, weil sie an „es ist nie zu spät” glauben. Sie trauen sich zu träumen und wagen es, anders zu sein. Sie wagen es, gegen den Strom zu schwimmen. Sie wagen es, an Veränderung zu glauben, an die Liebe. Sie wagen es zu glauben, dass sie etwas bewirken können. Auch wenn es nur „kleine“ Veränderung sind.
Starke Frauen – es gibt sie in jedem Alter, jeder Größe und jeder Farbe
Sie ist überall um dich herum und in dir und wartet darauf, enthüllt zu werden. Wartet auf ihr großes Debüt. Was genau das für dich bedeutet, darfst du jeden Tag neu definieren. Und was andere davon halten, ist schnurzpiepegal, das hat eh meist mehr mit ihnen als dir selbst zu tun.
Es ist Zeit, sie zu entfesseln. Es ist an der Zeit, ihr die Erlaubnis zu geben. Lass dir von der Gesellschaft nicht sagen, dass du schwach bist. Du bist eine starke Frau.
Über Romy Stangl
Romy Stangl ist Mutter von zwei Kindern, Model, Moderatorin, Vortragsrednerin und vor allem eine nimmermüde Aktivistin für die Rechte und das Empowerment von Frauen: Romy Stangl (45) kämpft mit allen Mitteln und auf vielen Social-Media-Kanälen gegen häusliche Gewalt. Sie ist als Aktivistin bei Terre Des Femmes und Vorstandsfrau von One Billion Rising München tätig, und engagiert sich bei UN Women Deutschland für die Rechte von Frauen weltweit. Überdies begleitet sie eherenamtlich Frauen, die von häuslicher Gewalt betroffen sind, auf ihrem Weg aus dieser Situation, und gibt Frauen auf Youtube und Facebook eine Stimme.