Als ehemalige Führungskraft im Rollstuhl weiß Karen Schallert genau wie es ist, behindert zu sein und gleichzeitig im Beruf ihre Frau zu stehen. Gerade wurde sie als „Mentorin des Jahres 2020” ausgezeichnet. In unserem Interview erzählt sie, welche Hürden sie überwunden hat, und wie sie heute Akademikerinnen mit Behinderungen dabei unterstützt, in der Berufswelt Fuß zu fassen
HEYDAY: Liebe Karen, wir haben uns vorgenommen, Frauen in der zweiten Lebenshälfte Mut zu machen, aber generell gilt unsere Zuwendung allen Generationen. Auch Du engagierst Dich in diesem Segment – gerade hast Du die Auszeichnung „Mentorin des Jahres“ der Deutschen Gesellschaft für Mentoring (DGM) erhalten. Kannst Du bitte kurz umreißen, wie sich Deine Mentoren-Tätigkeit gestaltet?
Karen Schallert: Der Hildegardis-Verein e.V. mit Sitz in Bonn nominierte mich als „Mentorin des Jahres 2020“. Er hat unter anderem ein inklusives Peer-Support-Netzwerk für AkademikerInnen mit Behinderungen auf ihrem beruflichen Weg ins Leben gerufen, um ihre Beschäftigungsperspektiven zu verbessern. In unserem iXNet-Mentoringprogramm, das immer auf zwölf Monate ausgelegt ist, betreut jede Mentorin oder jeder Mentor eine oder mehrere AkademikerInnen mit Handicap (Mentee).
Wir treffen uns je nach Bedarf des Mentees per Zoom oder telefonisch. Ziel jedes Treffens ist es, das vorliegende Problem zu erörtern, sowie Lösungen und Umsetzungsstrategien zu finden. Ich selbst unterstütze drei Mentees mit unterschiedlichen Behinderungen – von Multipler Sklerose über Sehbeeinträchtigung bis hin zu Angst- und Panikattacken. Ich bin immer wieder fasziniert von diesen starken, jungen Frauen, die sich nicht unterkriegen lassen!
Du leidest selbst an Multipler Sklerose – wann hast Du die Diagnose erhalten, und wie hast Du darauf reagiert?
Die Diagnose Multiple Sklerose habe ich im Juli 2000 in einer sehr schwierigen Phase meines Lebens erhalten. Ich war mitten in der Trennung von meinem Ex-Mann, hatte das Kind meines zukünftigen Mannes während der Schwangerschaft verloren und war auf dem Sprung zur beruflichen Veränderung von der Deutschen Post DHL Group zu McKinsey & Company.
Meine ganze Welt brach zusammen! Ich wusste nicht, wie sich meine Erkrankung entwickeln würde und wie lange ich berufstätig sein konnte. Mein Leben bestand nur noch aus Fragezeichen. Damals habe ich die Diagnose solange ignoriert, bis es mir nicht mehr möglich war. Als die erste körperliche Einschränkung auftauchte, erwachte mein Kampfgeist. Ich traf ganz bewusst die Entscheidung, dass mir diese Krankheit mein Leben nicht kaputtmachen würde. Außerdem fing ich an, Strategien zu entwickeln, um mein Leben zu meistern: Ich nahm jede Herausforderung an, konzentrierte mich auf die Lösungen, traf Entscheidungen und ergriff die Chancen, die sich mir boten. Dadurch konnte ich mein Leben in den letzten Jahren immer wieder zum Positiven wenden.
Was möchtest Du Frauen zurufen, die aufgrund eines auftretenden Handicaps ebenfalls einen schweren Einschnitt in ihrem Leben erfahren?
Vielleicht kannst Du Dir im Moment nicht vorstellen, wie es weitergehen kann und das ist auch okay. Auch ich war in Situationen, in denen ich am liebsten aufgegeben hätte. Als ich die Diagnose Multiple Sklerose bekam und als
während meiner Stammzellentransplantation mein Mann starb, wollte ich nicht mehr weiterleben. Allein der Gedanke, dass ich auf der Erde eine Aufgabe zu erfüllen habe, hat mir immer die notwendige Kraft gegeben, weiter zu machen. Es traten neue Menschen in mein Leben, ich nahm Hilfe an und Türen öffneten sich. Rückblickend kann ich aus ganzem Herzen sagen, dass mein Leben zwar anders, aber inzwischen wieder großartig ist.
Trotz Deiner Erkrankung und Deines Rollstuhls warst du viele Jahre lang als Führungskraft sehr erfolgreich. Wie ist es Dir gelungen, Dich im beruflichen „Haifischbecken“ durchzusetzen?
Ich hatte nicht das Gefühl in einem Haifischbecken zu schwimmen. Mein großer Vorteil war, dass ich die einzige weibliche Führungskraft und Rollstuhlfahrerin bei der TGE Marine Gas gewesen bin. Dazu hatte ich das Glück, den Hauptgeschäftsführer als Chef und Mentor zu haben, der mich in allen Belangen unterstützt hat. Somit musste ich keiner Rolle entsprechen und konnte mich und meine Stärken frei entfalten. Ich hatte das große Glück, so einen Arbeitgeber zu haben.
In dem Buch Von den besten Experten profitieren, Band 1: Inspiration, Insights, Impulse geht es um die Einstellung und die Potentiale der bisher nahezu unentdeckten Führungskräfte mit Handicap. Erhältlich ist das Buch HIER
Welche positiven und negativen Erfahrungen hast Du mit ArbeitgeberInnen, KollegInnen und generell im Arbeitsumfeld gemacht?
Die positivsten Erfahrungen in meinem Arbeitsumfeld habe ich in der Zeit gemacht, als ich Schwäche zeigte, Nähe zuließ und Hilfe annahm. Das war während meiner Stammzellen-transplantation und dem gleichzeitigen Tod meines Mannes. Meine neue Nahbarkeit machte mich zu einer besseren Führungskraft und Kollegin. Negative Erfahrung musste ich glücklicherweise nicht machen.
„Menschen mit Behinderung oder chronischer Erkrankung sind oft flexibler, motivierter, kommunikativer, kreativer, teamfähiger, loyaler, lösungsorientierter und denken vermehrt out of the box“
Was möchtest Du heute ArbeitgeberInnen in Bezug auf MitarbeiterInnen mit Handicap ans Herz legen?
Es gibt so viele gut ausgebildete Menschen mit Handicap, die unglaublich motiviert, flexibel und lösungsorientiert sind. Als ehemalige Personalleiterin kann ich nur sagen: Sie sind definitiv eine Bereicherung für alle ArbeitgeberInnen! Deshalb möchte ich den ArbeitgeberInnen an dieser Stelle sagen: Ihr Unternehmen wird nachgewiesene positive Effekte von Diversity für Sie erzielen und die Außenwahrnehmung Ihres Unternehmens zum Positiven wenden. Ihr Unternehmen wird sowohl als soziales Unternehmen als auch als Great Place to Work wahrgenommen werden. In der Innenwirkung wird sich dies auf das Miteinander, die Unternehmenskultur und das Lösen blinder Flecken auswirken.
Mit welchen besonderen Eigenschaften können MitarbeiterInnen mit Handicap ihr Arbeitsumfeld bereichern?
Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung müssen in ihrem privaten und beruflichen Alltag viele Herausforderungen meistern. Deshalb sind sie oft flexibler, motivierter, kommunikativer, kreativer, teamfähiger, loyaler, lösungsorientierter und denken vermehrt out of the box. Sie sind es gewohnt, Krisen zu meistern und Herausforderungen anzunehmen.
Wie können KollegInnen dazu beitragen, den Arbeitsalltag von Frauen mit einer körperlichen Behinderung zu erleichtern?
Ich habe immer kommuniziert, dass ich keine Extrawurst brauche und dass ich mich melde, wenn ich Unterstützung benötige. Das hat die Zusammenarbeit mit meinen KollegInnen erleichtert und entspannt. Das gab mir das Gefühl gleichwertig zu sein. Mein Handicap stand nicht im ständigen Fokus. Aber jeder Mensch ist anders und hat unterschiedliche Bedarfe, das lerne ich auch im iXNet-Mentoring. So kann ich KollegInnen und
ArbeitgeberInnen nur zu offener Kommunikation ermutigen: Fragt neue KollegInnen, was sie brauchen.
„Ich treffe immer wieder bewusst die Entscheidung für ein gutes und spannendes Leben. Ich lasse nicht zu, dass meine Behinderung mir mein Leben kaputt macht”
Was ist Deiner Meinung nach im Umgang mit körperlich behinderten MitbürgerInnen „gut gemeint aber fehl am Platz“?
Manchmal kommt es vor, dass meine BegleiterInnen angesprochen werden, obwohl ich eigentlich die Ansprechpartnerin bin. Außerdem kommt es vor, dass jemand einfach den Rollstuhl schiebt, ohne zu fragen.
Interessanterweise wurde mir von männlichen Kollegen öfter die Hand auf meine Schulter gelegt, was mir als Fußgängerin nicht passiert ist. Das nehme ich allerdings alles mit Humor.
Was uns besonders beeindruckt ist Deine Zuversicht, dass jede Frau „nach den Sternen greifen“ kann – auch dann, wenn die Ausgangsposition auf den ersten Blick nicht gerade ideal aussieht. Woher hast Du so viel Lebensmut und Power?
Ich treffe immer wieder bewusst die Entscheidung für ein gutes und spannendes Leben. Ich lasse nicht zu, dass meine Behinderung mir mein Leben kaputt macht. Und, ich bin schon immer ein optimistischer Mensch
gewesen. Inzwischen ist mein Vertrauen gewachsen, dass ich zukünftige Herausforderungen meistern werde, auch wenn ich vielleicht im ersten Moment nicht weiß, wie die Lösung aussehen wird. „Geht nicht” gibt es für mich nicht.
Kleine Schritte, oder immer gleich aufs Ganze gehen? Was rätst Du Frauen, die sich trotz Behinderung in einer Führungsposition sehen?
Aufgrund meiner Persönlichkeit bin ich immer gleich aufs Ganze gegangen und habe alle Chancen ergriffen, die ich hatte. Meine Beförderung zur Personalleiterin geschah vier Wochen nach meiner Diagnose, und obwohl ich keine Ahnung hatte, wie es weitergehen konnte, habe ich die Herausforderung angenommen. Und es hat funktioniert. Grundsätzlich würde ich sagen, dass die Vorgehensweise abhängig von der Persönlichkeit ist, und nicht verallgemeinert werden kann. Wenn sich jemand mit kleineren Schritten wohler fühlt, dann ist es der richtige Weg für diese Person.
Wie können Frauen mit Handicap in den Genuss Deines Coachings kommen?
Mit meiner Firma HandicapUnlimited und mit meinem neuen Programm MINDjump unterstütze ich ehrgeizige Menschen mit körperlichem Handicap auf ihrem Weg zur Führungskraft und stehe für authentische Führung. Es gibt die Möglichkeit, bei einem akuten Problem ein sogenanntes Notfall-Coaching bei mir zu machen oder sich intensiv 1:1 über einen längeren Zeitraum zum Traumziel begleiten zu lassen. Und wer sich mir erst einmal mit kleinen Schritten nähern will, kann gerne schauen, was in meiner Facebook-Gruppe Connecting Wheels los ist.
Mehr über die DIAGNOSE MULTIPLE SKLEROSE
- Die Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Krankheit des zentralen Nervensystems. MS wird als „die Krankheit mit den 1000 Gesichtern” bezeichnet, da ihre Symptome so vielfältig sind. Meistens beginnt die MS in Schüben und geht später in einen progredienten Verlauf über.
- Weltweit sind circa 2,5 Millionen Menschen an Multiple Sklerose erkrankt. Rund 250.000 davon leben in Deutschland. 70 Prozent der Betroffenen sind Frauen. Jährlich werden mehr als 10.000 Menschen neu diagnostiziert. Das typische Erkrankungsalter liegt zwischen 20 und 40 Jahren.
- Die Ursache ist nach wie vor ungeklärt. Zurzeit gehen die Forscher von einer Auto-Immunreaktion des Körpers aus. MS lässt sich bislang nicht heilen, aber gut behandeln. Vor einigen Tagen wurde von BioNTech bekannt gegeben, dass sie einen mRNA-Impfstoff gegen Multiple Sklerose entwickeln.
Karens Leben gibt es hier in Bildern:
Über Karen Schallert
Nach ihrem Studium (Amerikanistik, Neue Englische Literatur, Erziehungswissenschaften) sowie Aufenthalten in den USA arbeitete Karen Schallert für die Deutsche Post DHL Group und McKinsey & Company sowie im internationalen Anlagenbau bei der TGE Marine Gas Engineering GmbH als Führungskraft. Trotz ihrer Multiplen-Sklerose-Erkrankung und ihres Rollstuhls war sie jahrelang als Personalleiterin erfolgreich tätig. Jetzt widmet sie sich mit ihrer Firma HandicapUnlimited ihrer absoluten Herzensaufgabe als Coach, Mentorin und Wirtschaftsmediatorin. Sie unterstützt Menschen mit Handicap auf ihrem Weg zur besonderen Führungskraft. Seit September 2020 ist sie ehrenamtliches Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Mentoring und wurde zur „Mentorin des Jahres 2020” gewählt.
Ihr Motto, mit dem sie auch als Keynote-Speakerin unterwegs ist, lautet: „Begeistere die Welt mit deiner Einzigartigkeit! Sei ein Special Leader der neuen Zeit! Die Welt braucht dich!“