„Selbstoptimierung ist mein persönliches Hass-Wort“

Mirjam Knickriem

Sabine Vitua hat unzählige Rollen im TV und Kino gespielt und kann sich über eine lange, erfolgreiche und andauernde Karriere freuen. Dass das Leben als Frau in der Film-Branche aber mitunter seine Tücken hat, erzählt sie in unserem exklusiven Interview

Schauspielerin Sabine Vitua Interview Heyday Magazine Mirjam Knickriem
Foto: Mirjam Knickriem/ photoselection.de

Wir trafen Sabine Vitua, die vor allem durch ihre Rolle als Regine in der Comedy-Serie Pastewka von sich reden gemacht hat, im Restaurant Osterberger in Berlin Mitte. Im Rahmen unseres Interviews erzählt die 59-Jährige von ihrer Kindheit sowie ihrem Leben als Schauspielerin, und äussert sich auch zu vielen aktuellen Themen unserer Zeit. Der Jugendwahn, die sogenannte Selbstoptimierung, das Schönheitsideal, gesellschaftliche Konventionen, die Corona-Krise und nicht zuletzt das Älterwerden: Sabine Vitua nimmt kein Blatt vor den Mund – sie hat zu allem eine dezidierte Meinung und interessante Ansichten …

HEYDAY: Hallo liebe Sabine, erzähle uns doch etwas von Deiner ungewöhnlichen Kindheit: Du bist zusammen mit Waisenkindern aufgewachsen, weil Deine Mutter die Leiterin eines Kinderheims war. Wie hat Dich diese Zeit geprägt?

Sabine Vitua: Als ich dreieinhalb Jahre alt war, ist meine Mutter, die Berlinerin ist, mit mir nach Spandau in das evangelische Johannesstift gezogen. Sie hat dort das Kinderheim mit 86 Kindern, von Säuglingen bis 6-Jährigen, geleitet. Wir hatten viel Platz und Spielzeug. Es war ein schön eingerichtetes Heim, es gab eine riesige Vogelvoliere und die Kinderbetreuerinnen waren sehr liebevoll. Ich erinnere mich noch gut an die Sonntage: Einmal im Monat war Besuchstag, das war aufregend. Einige Eltern waren sehr auffällig, die Frauen stark geschminkt. Erst später habe ich dann erfahren, dass zum Beispiel ein Vater, der oft Spielzeug gespendet hatte, ein Zuhälter war.

Natürlich hat mich diese Zeit geprägt. So ist mein Vertrauen in das Modell Familie kaputt gegangen – ich wollte nie eine Familie haben. Ich habe früh gelernt, dass man auf sich alleine gestellt ist. Tagsüber war es immer sehr schön mit den anderen Kindern. An heißen Sommertagen sind wir zusammen unter dem Rasensprenger rumgerannt. Aber ich konnte abends dann immer zu meiner Mutter gehen, während die anderen Heimkinder alleine blieben. Dadurch hatte ich eine Außenseiterposition und habe mich durch Anpassungsfähigkeit gerettet. Bei den gemeinsamen Abendessen habe ich Sachen aufgegessen, die mir bis heute nicht schmecken.

Ich habe mit den Heimkindern bis zu deren Schulalter zusammengelebt. Dann wurden sie „umverteilt“, auf Pflege- oder Adoptionsfamilien. Meine Mutter wollte zwar eines der Kinder aufnehmen, aber sie durfte nicht, da sie alleinstehend und geschieden war. „Schuldig geschieden“, wie es damals noch hieß. Wenn die Kinder nicht in Familien unterkamen, mussten sie auf andere Heime verteilt werden, in Heime für „Schwererziehbare“, wie man es damals nannte. Als ich fast zehn Jahre alt war, sind wir dann ins Allgäu gezogen. Dort hatte ich eine unbeschwerte Kindheit.

Wie kam es dazu, dass Du Schauspielerin geworden bist?

Nach meinem Abitur bin ich dem Kleinstädtischen sofort entflohen. Ich war viel in Europa unterwegs, teils mit Interrail, teils getrampt. Danach habe ich zuerst Theaterwissenschaften in München studiert.  

Welche Aspekte an Deiner Arbeit als Schauspielerin gefallen Dir am meisten?

Anfangs habe ich gedacht, Spielen ist wie Urlaub von mir selbst. Aber das stimmt natürlich nicht. Spielen ist Vervielfältigung von Leben. Ich lerne so viel Fremdes kennen. Eigenschaften, die mich interessieren, mich faszinieren, ängstigen, kann ich mir einverleiben. Ich bin eine Figurenfresserin.

Du hast lange die Regine in der erfolgreichen Comedy-Serie Pastewka gespielt. Was war das Verrückteste, was Du in all den Jahren erlebt hast?

Das Verrückteste? Ich habe den Regisseur geheiratet!

Was hat Dich an der Rolle der trinksüchtigen Managerin fasziniert?

Regine ist wahnsinnig selbstbewusst und rotzig. Ich hingegen bin sehr viel zurückhaltender. Ich glaube, es braucht eine gewisse Reibungsfläche zwischen Rolle und Darsteller. Regine hat mir immer viel Spaß gemacht. Und oft, wenn ich mich in Situationen nicht ganz wohl fühle, benutze ich Regine heute noch. Zum Beispiel wenn ich in einen arroganten Laden gehe, sage ich mir: „Komm, jetzt hol die Regine raus!“. Das funktioniert wahnsinnig gut! Regine sollte man immer dabeihaben!

„Bei meiner Arbeit geht es darum, sich zu öffnen und seine Fantasie zu benutzen. Das ist eine Art sinnliches Forschungsfeld, auf dem ich mich bewege. Ich empfinde das als eine große Vitalität”

Sabine Vitua
Fotos: C. F . Vogel für Frau Frieda
Schauspielerin Sabine Vitua Interview Heyday Magazine Mirjam Knickriem
Schauspielerin Sabine Vitua Interview Heyday Magazine Mirjam Knickriem
Fotos: Mirjam Knickriem (2)

Welche Rolle spielen Aussehen und Schönheit in Deinem Beruf? Müssen Frauen in der Filmbrache nicht immer einem bestimmten Idealbild entsprechen?

Als Frau ist man immer in einer Schublade, und als Anfängerin ist man ungeschützt und sehr eingeschränkt. Als ich noch auf der Schauspielschule war, gab es zum Beispiel kaum große Frauen. Heute ist es, Gottseidank, offener und vielfältiger geworden.

Wie hat sich das Bild von Schauspielerinnen im Laufe der Jahre verändert?

Mein Leben und mein Frauenbild haben Schauspielerinnen wie Marylin Monroe, Jeanne Moreau und Katharine Hepburn bestimmt. Nicht nur, weil sie großartig gespielt haben, sondern vor allem wegen ihrer Stärke, ihrer Sinnlichkeit, ihrem Intellekt, ihrem Witz und ihrer Scharfzüngigkeit. Ich weiß aber gar nicht, ob Schauspielerinnen heute noch diese Vorbild-Funktion für jüngere Frauen haben. Heute geht es doch eher um das Aussehen und Mode.

Gerade Frauen haben immer wieder mit Klischees und Kategorisierungen zu kämpfen. Wie hat sich die Perspektive für Frauen im Film entwickelt? 

Es gibt einfach insgesamt sehr viel weniger Rollen für Frauen im Vergleich zu Männern, und man ist sehr schnell festgelegt und kommt da auch ganz schwer wieder raus. Ich war häufig in der Schiene „Typ Escort-Chefin“, oder Agentin, wenn’s geht in betrunken. Gerade bin ich die Fachfrau für Mutter-Tochter-Beziehungen. Zum Glück arbeite ich viel mit Filmstudenten, die mit den gängigen Kategorisierungen gar nichts zu tun haben. Der Film, für den ich meinen Schauspielpreis bekommen habe, war auch ein Studentenfilm – eine brisante Missbrauchsgeschichte in der ich eine Frau gespielt habe, die einen Behinderten sexuell ausbeutet.

Schauspielerin Sabine Vitua Interview Heyday Magazine Mirjam Knickriem
Fotos: Mirjam Knickriem (2),  photoselection.de
Schauspielerin Sabine Vitua Interview Heyday Magazine Mirjam Knickriem
Foto: C. F . Vogel für Frau Frieda
Foto: C. F . Vogel für Frau Frieda

„Kinder werden schon von klein auf in Geschlechterrollen gedrängt. Deswegen freue ich mich über jede Frau, die aus diesen Schubladen ausbricht”

Sabine Vitua

Unsere Gesellschaft ist trotz #MeToo– und Female-Empowerment-Bewegungen noch stark von männlichen Entscheidungen dominiert. Wie schätzt Du die Situation ein?

Wir Frauen werden permanent über die Attraktivität bewertet. Sind wir zu attraktiv oder zu wenig? Wir werden in jedem Fall bestraft. Entweder wird uns die Intelligenz abgesprochen, oder wir werden einfach nicht wahrgenommen. Egal ob wir jung oder alt sind. Wir müssen immer im Kampfmodus bleiben.


Ich erinnere mich an ein Theatervorsprechen, bei dem der Intendant gefragt hat, was ich so mache. Ich bin rot geworden, habe einen Schreck bekommen und fragte „heute Abend?“ Das zeigt, wie sehr man konditioniert ist. Das Schlimme ist, ich habe das jahrelang auch noch witzig gefunden und erst seit der #MeToo Debatte ist mir klar geworden, dass es eine traurige Geschichte ist.

Das erbitterte Streben nach Jugend ist vor allem in Hollywood immer noch weit verbreitet. Viele haben sich optimieren lassen, weil sie jüngere Rollen bekommen wollten. Welche Meinung hast Du zu dem Thema Schönheits-OPs und Selbstoptimierung?

Ich kann das Wort Selbstoptimierung und alles was dahinter steckt nicht ausstehen und ertragen. Weil es uns wieder in einen Wettbewerb bringt. Schönheits-OPs verurteile ich nicht. Ich habe es bis jetzt noch nicht in Erwägung gezogen und ich glaube nicht, dass Erfolg damit zu tun hat. Sondern mit Offenheit, Geist, Ausstrahlung, Aura.

Viele erfolgreiche Schauspielerinnen klagen darüber, dass sie ab einem gewissen Alter gar keine oder schlechte Rollen angeboten bekommen. Welche Erfahrungen hast Du bei der Vergabe von Rollen gemacht?

Ich kann das in meinem Fall zwar nicht bestätigen, aber natürlich stimmt das. Hier geht es wieder um die berühmten Schubladen. Früher hat man am Theater gesagt: „Die haben den Wechsel vom Mädchen zur Frau nicht überstanden.“ Als ich beim Fernsehen angefangen habe, sollte ich mit einem Kollegen im Film dasselbe Alter haben. Ich war damals 34 Jahre alt, kam relativ frisch vom Theater, und die männliche Rolle war 61. Ich habe mich natürlich wahnsinnig gefreut, in einer Serie spielen zu dürfen. Dann habe mir Gedanken gemacht, wie ich es schaffe, älter auszusehen und zu wirken. Bei der Kostümprobe bekam ich ein weißes Hemd, eine Jeans und eine Lederjacke drüber. So sah ich aus wie Ende 20. Dem Mann wurden die Haare blond gefärbt, wodurch er eher noch älter aussah. Ist das nicht absurd?

Als 35-Jährige wurde ich für Rollen besetzt, die für 55-jährige Frauen geschrieben waren. Was für eine Unverschämtheit, habe ich mir gedacht. Interessant ist, dass ich heute mit Regisseuren in meinem Alter kaum was zu tun habe. Stattdessen arbeite ich meistens mit Frauen oder mit jüngeren Regisseuren. Erst jetzt kommt es seit langem mal wieder zu einer Zusammenarbeit mit einem älteren Regisseur.

Das Alter ist nichts für Feiglinge. Wie erlebst Du persönlich das Älterwerden?

Das Älterwerden ist für mich sehr ambivalent. Das Aussehen ist noch das Harmloseste, aber wenn plötzlich Freunde sterben und die Eltern schwächer werden, ist man sehr gefordert. Da fällt mir ein schönes Zitat von der Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich ein: „Ich halte es für eine Zumutung, dass Menschen nicht nur alt werden, sondern auch noch sterben müssen.“

Auf der anderen Seite sehe ich es auch so: Erst ist man ein Kind, dann eine Frau und dann eine Kombination aus beiden. Es ist wie eine dritte Stufe des Lebens. Ich merke immer mehr, wie ich in meine Kindheit zurückgeführt werde. Ich beschäftige mich viel mit meiner Vergangenheit und Erinnerungen. Außerdem lebt man bewusster, ist reflektierter und nimmt nicht mehr alles als selbstverständlich. Als junger Mensch hat man immer das Gefühl, alle umarmen zu müssen. Diese Liebe ist jetzt nicht mehr so breit gefächert. Ich würde sagen, dass man im Alter mehr in die Tiefe geht statt in die Breite.

Warum herrschen – Deiner Meinung nach – immer noch veraltete gesellschaftliche Konventionen vor, die Frauen vorschreiben, was sie ab einem gewissen Alter zu tun haben?

Da fällt mir ein Geschlechter-Experiment ein, das als Werbekampagne getarnt war: Jungs und Mädchen im Grundschulalter sollten Joghurt essen und dann sagen: „Mmmh, ist der lecker.“ Der Joghurt war aber versalzen. Die Jungs haben durch die Bank weg die Wahrheit gesagt. Nämlich dass der Joghurt nicht schmeckt. Die Mädchen allerdings haben das gesagt, was man von ihnen hören wollte: „Mmmh, ist der lecker.“ Kinder werden also schon von klein auf in Geschlechterrollen gedrängt und erschreckenderweise ist für Mädchen das „gefallen wollen“ die Maxime. Deswegen freue ich mich über jede, die aus diesen Rollen ausbricht. Ich finde zum Beispiel Frances McDormand toll, die sich in Birkenstock-Latschen den Oscar abholt, einen kleinen Bauch hat und sich nicht schminkt. Auch die Rollen, die sie spielt, finde ich fantastisch. Ich bewundere es, wenn man so befreit lebt.

Schauspielerin Sabine Vitua Interview Heyday Magazine Mirjam Knickriem
Foto: Mirjam Knickriem/ photoselection.de

Selbstoptimierung, Eitelkeit und Jugendwahn begegnen uns vor allem auf Social Media. Was hältst Du von den Sozialen Medien?

Mit Social Media habe ich eigentlich nicht viel zu tun, denke aber darüber nach. Denn natürlich ist es von Vorteil, wenn man als Schauspielerin einen Instagram-Account hat. Unter Kolleginnen gibt es da immer Riesendiskussionen. Die einen sagen, man könne Social Media doch nicht den Doofen überlassen. Andere meinen, seit sie Social Media verwenden, hätten sie ein besseres Standing bei Besetzungen. Mir gefällt diese ständige Ablenkung nicht. Mir ist das zu unkonzentriert. Ich bin da altmodisch. Ich bevorzuge den realen Dialog.

Wie hast Du persönlich den Corona-Shutdown erlebt?

Für mich war diese Phase wie eine Art kreatives Niemandsland. Wenn jeder Tag gleich ist, fühlt sich das für mich irgendwie stumpf und unlebendig an. Man erlebt ja nichts. Ich habe dann gar keine Filme mehr angeschaut und auch nicht mehr gelesen. Es war wie eine Fake-Situation sozusagen. Mir fehlte einfach der Austausch mit anderen. Ich habe mich auf den Garten gestürzt, gepuzzelt, ordentlich aussortiert und renoviert.

Was hast Du aus dieser Zeit mitgenommen?

Ich bin ja ein echter Genussmensch, ob beim Essen oder Lesen. Als ich gesehen habe, wie viele Bücher ich besitze, auch ungelesene, habe ich einen Schreck bekommen. Immer dieses Haben, Haben, Haben. Ich bin ja leider auch nur ein Opfer des Konsums.

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Zu guter Letzt:


Was wünscht Du Dir nach Corona für die Zukunft in unserer Gesellschaft?

„Weniger Egoismus, dafür mehr Solidarität und Verständnis füreinander. Dass statt Gier nur noch Lebenslust übrigbleibt.”

Sabine Vitua

Mehr über Sabine Vitua

Sabine Vitua kam 1961 in Ludwigshafen am Rhein zur Welt, seit 2009 ist sie verheiratet, sie lebt in Berlin. Ihre Ausbildung absolvierte sie an der Universität der Künste Berlin, seit Ende der 1980er Jahre ist sie als Theater- und Filmschauspielerin tätig. In den 1990er Jahren war sie festes Ensemblemitglied am Schauspielhaus Zürich, später spielte sie in Luxemburg am Theatre des Capucins und an der Volksbühne Berlin. Zudem ist sie durch zahlreiche Haupt- und Nebenrollen in erfolgreichen deutschen TV-Serien und Kinoproduktionen bekannt; eine Liste all ihrer Rollen findet sich HIER.

Schauspielerin Sabine Vitua Interview Heyday Magazine Mathias Bothor
Foto: Mathias Bothor

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