Radikal und offen – ein intimes Interview über häusliche Gewalt

Mehrmals in ihrem Leben wurde sie zum Opfer, heute macht sie sich als Aktivistin für die Rechte und das Empowerment von Frauen stark: In unserem Interview spricht Romy Stangl (45) ohne Vorbehalte über ihre persönlichen Erfahrungen mit häuslicher Gewalt

Romy Stangl Interview häusliche Gewalt Heyday
Foto: Peter Müller

Nach einem jahrelangen persönlichen Leidensweg, den sie schlussendlich mit Hilfe einer couragierten Frau verlassen konnte, kämpft Romy Stangl heute unermüdlich und mit ganzem Herzen gegen häusliche Gewalt. Sie engagiert sich mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln, tagesaktueller Thematisierung auf vielen Social-Media-Kanälen, sowie als Mitglied diverser Frauen-Organisationen. Im HEYDAY-Interview erzählt sie uns von ihren überaus schmerzhaften und prägenden Erfahrungen, spricht über die Problematik rund um die meist unsichtbare und doch allgegenwärtige Gewalt gegen Frauen, und gibt Tipps, wie jede einzelne von uns Hilfestellung leisten kann.

HEYDAY: Liebe Romy, Du hast als Kind in Deiner Familie und später auch in Deiner Partnerschaft Gewalt erlebt. Erst vor rund zwei Jahren hast Du Dein Schweigen gebrochen und redest seither offen darüber. Was hat Dich dazu bewegt?

Romy Stangl: Die seelischen Narben werden nie ganz heilen, und dennoch sind es genau diese, die mir Kraft geben, mich heute für Frauen zu engagieren, die tagtäglich hinter jeder vierten Tür körperlicher und seelischer Misshandlung ausgesetzt sind. Ich konnte lange nicht in den Spiegel schauen und dieses Gesicht mögen, das ich dort sah. Ich konnte auch nicht stolz auf mich sein, dass ich es selbst geschafft hatte, diesem Wahnsinn endlich zu entkommen und neu anzufangen. Das Lachen hatte ich verlernt und das Vertrauen in mich selbst, dass alles wieder gut wird. Ich fragte mich: Wo ist mein Platz im Leben und was habe ich zu geben?

Diesen Gefühlen wie Schmerz, Schuldbewusstsein, Angst und Wut wollte ich keinen Raum mehr in meinem Leben geben. Ich wollte sie umwandeln in Liebe, Selbstvertrauen und Kraft. Ich wollte mich für Frauen stark machen, die häusliche Gewalt erleben und erlebt haben, um Zeichen der Hoffnung zu setzen und Perspektiven zu schaffen. Ich wollte diesen Frauen das ermöglichen, was mir gefehlt hat – Verständnis, umfassende Hilfen, eine Justiz, die menschlich handelt, eine Gesellschaft, die nicht wegschaut – und natürlich die Möglichkeit einer Basis für die ein neues Leben.

So entstand in meinem Kopf das Konzept für mein Herzensprojekt „Signs of Hope“, das drei Säulen hat – Prävention, umfassende Nachsorge in Form eines Wohnkonzeptes und Aufklärung der Gesellschaft, sowie das Ermöglichen flächendeckender Hilfsangebote für Betroffene. Ich suchte Kontakt zu Terre des Femmes, eine der weltweit größten Frauenorganisationen, und wurde Mitfrau. Es wurde mir immer klarer, wie wichtig es ist, über das Erlebte zu sprechen und etwas für die Betroffenen zu bewegen.

Am 14.02.2018 habe ich dann endlich mein Schweigen gebrochen und über meine Erfahrungen mit Gewalt auf der Bühne des One Billion Rising Day in München gesprochen. Und dort spürte ich eine Kraft aus den Gesprächen und Reaktionen der Menschen, die mir zeigten: Ich bin auf dem richtigen Weg in meinem Bestreben etwas zum Guten zu verändern, aber auch aufmerksam zu machen auf diesen dunklen Schatten – Gewalt an Frauen. Es wird Zeit, hin und nicht mehr weg zu schauen. Dafür mache ich mich stark. Meine Anker im Leben sind meine Familie, meine beste Freundin, die Liebe und das Ja zum Leben. Ich bin 44 Jahre alt und freue mich auf jedes Jahr, das dazu kommt. Ich glaube an Gott und an das Gute im Menschen, und dass die Liebe die Antwort auf alles ist.

Wie hast Du die schlimmen Zeiten in Deinem Leben – die Kindheit und eine schreckliche Partnerschaft – rückblickend erlebt, und wie haben sie Dich geprägt?

Ich war sieben, als ich in meinem Urvertrauen erschüttert wurde. Mein Vater schlug mich vor den Augen meiner gesamten Familie wieder und wieder, er nannte mich Bastard, und seine großen Hände schlugen wieder und wieder in mein Gesicht. Ich sah hilfesuchend mit Tränen in den Augen zu meiner Mutter: „Hilf mir bitte“, schrie ich. Aber sie saß da mit Angst und Tränen in den Augen, weil er auch sie gebrochen hatte, sie zum Schweigen brachte durch Demütigungen und Schläge. Als er fertig war und ich vor Schmerz gekrümmt, weinend in meinem Bett lag, saß er neben mir und streichelte mir mit seinen großen Händen über das Gesicht und meinen ganzen Körper. Zitternd sagte er: „Es tut mir leid, ich liebe dich“. Meine kleine Seele schrie und war gebrochen: „Papa warum tust du mir weh?” – Ein Kind sollte solche Schmerzen nicht erleiden und mit ansehen müssen, denn es wird für den Rest seines Lebens davon verfolgt und ihm wird die Grundlage genommen, zu vertrauen. Hände sollten ein Gesicht in Liebe berühren und nicht mit Gewalt.

Ich war 14, als mein Halbbruder mich vor den Augen seiner damals dreijährigen Tochter fast umbrachte mit den Worten: „Du bist eine Schande für diese Familie und ich bring dir bei dich unterzuordnen“. Er presste mich gegen eine Wand und schlug mich wieder und wieder, würgte mich und sagte: „Das ist das Einzige, was dir hilft zu begreifen“. Mit 19 verließ ich mein Elternhaus – meine Eltern waren zu dem Zeitpunkt schon geschieden und meine Mutter gab mir die Schuld dafür. Sie hat seitdem kein Wort mehr mit mir gesprochen. Für mich stand fest: Mir wird es nie mehr wiederfahren, dass ein Mann die Hand gegen mich erhebt. Doch es sollte anders kommen …

Es war ein rauer Herbsttag vor 14 Jahren als ich mit meinem damals vierjährigen Sohn aus einer Hölle der Gewalt mit einem Mann, der mich über vier Jahre seelisch und körperlich misshandelte, mich einsperrte, mich zu vergewaltigten versuchte. Mich mit der Faust ins Gesicht schlug und mir dann mit einem Lächeln in die Augen schaute und sagte „Jetzt erinnere ich dich an deinen Vater“.

Ich bin dieser Hölle entkommen. Ich war eine verängstigte junge Frau, ohne Lebensmut und voller Schuldbewusstsein, dass ich die Ursache für all das war, was mir passiert ist. Ich habe viel verloren, aber auch viel dazu gewonnen. Ich habe gelernt, wieder „ja“ zum Leben zu sagen, Vertrauen zu haben und mir meiner Stärken und Schwächen bewusst zu werden. Ich habe gelernt, dass ich wertvoll bin, so wie ich bin. Ich habe gelernt, dass ich es in der Hand habe etwas in meinem Leben zu ändern – mit Mut und Selbstvertrauen. Ich habe gelernt: Jeden Tag habe ich aufs Neue die Möglichkeit eine Entscheidung zu treffen – die Entscheidung glücklich zu sein.

Als Kind ist man Gewalt hilflos ausgeliefert, doch auch in Partnerschaften gelingt es vielen nicht, sich zu trennen. Warum können sich Frauen so schwer von gewalttätigen Partnern lösen?

Trotz erheblicher Verletzungen und Demütigungen verharren Frauen im Durchschnitt sieben Jahre in einer gewalttätigen Beziehung. Bei oberflächlicher Betrachtung erscheint das irrational und erweckt vordergründig den Eindruck, dass die betroffene Frau mit ihrer Situation einverstanden sei. Dies ist zweifelsfrei nicht der Fall. Aber dadurch, dass sie glaubt die Gewalt mit verursacht zu haben und sich – im Gegensatz zu ihrem Partner – schuldig fühlt, kann sie sich nur schwer aus der Beziehung lösen. Darüber hinaus gibt es vielerlei Gründe, die es Frauen unmöglich macht, den Mann trotz massiver Gewalthandlungen nicht zu verlassen.

Diese können sein: 

  • Abhängigkeit – wirtschaftliche und existentielle Ängste, Angst vor Statusverlust
  • Verantwortungsbewusstsein – sie will Familie nicht auseinanderreißen, den Kindern den Vater erhalten
  • Gesellschaftlicher Druck – Religion lässt eine Scheidung nicht zu, Druck durch das soziale Umfeld, oder die Frau will das Scheitern der Beziehung verhindern, um in ihrer weiblichen Rolle nicht zu „versagen“
  • Hoffnung – in den Zeiten, in denen der gewalttätige Mann Reue zeigt, kann die Beziehung besonders intensiv sein, was immer wieder Anlass zur Hoffnung auf eine Besserung der Situation gibt. Es ist auch leichter zu hoffen, als zu gehen …
  • Isolation – Kontakte außerhalb der Ehe sind meist stark reduziert, Kinder werden seitens des Mannes als Druckmittel eingesetzt, um die Frau am Verlassen zu hindern. Die Frau fühlt sich in einer ausweglosen Situation
  • Angst – Frauen befürchten, insbesondere in der Trennungsphase, eine Steigerung der Gewalt durch den Mann. Erfahrungen zeigen, dass diese Angst berechtigt ist
  • Psychologische Aspekte – das Selbstwertgefühl und die Fähigkeit, aus eigener Kraft Veränderungen herbeizuführen, sind durch die lange Phase der Erniedrigung und Demütigung erheblich reduziert
  • „Stockholm-Syndrom“ – schwer misshandelte Frauen zeigen oft ähnliche Reaktionen wie Opfer von Geiselnahmen: die Identifikation/Verbrüderung mit dem Gewalttäter ist eine Überlebensstrategie in Extremsituationen
Romy Stangl Interview häusliche Gewalt Heyday
Foto: Luca Lancieri

„Ich kann die Welt nicht ändern, doch ich kann Menschen dazu zu bewegen, ihren Blick auf die Welt zu ändern und Gewalt an Frauen als das zu sehen, was es ist: eine Menschenrechtsverletzung, die wir nicht länger hinnehmen dürfen.”

Romy Stangl

Warum fühlen sich Opfer selbst schuldig?

Weil ihnen etwas Unfassbares widerfahren ist! Etwas Unbegreifliches, etwas Unverständliches, etwas einfach Unfassbares! Diese Handlungen machen fassungslos und entziehen sich jedem Verstehen. Wenn Menschen so etwas geschieht, dann versuchen sie oft, sich irgendwelche Zusammenhänge zu bauen, die Unerklärliches erklärbar machen. „Das muss doch irgendwie einen Grund gegeben haben“, habe ich mir in meiner Situation oft gedacht. Aber den habe ich nirgendwo gefunden. Also muss es an mir gelegen haben.

Solche Überlegungen, die zumeist unbewusst oder halbbewusst ablaufen, mögen unvernünftig sein. In der Logik der Gefühle machen sie für viele Sinn und führen zu den Schuldgefühlen der Opfer. Und letztlich fühlen sich Opfer auch schuldig, dass sie den/die Täter irgendwie ermutigt hätten. Sie entschuldigen sich für all ihre „schlechten Taten“ und das Verhalten der Täter. Auch, wenn sie nicht damit einverstanden sind, wie sie behandelt werden. „Wie habe ich dazu beigetragen, dass der andere so handeln musste?” – „Was habe ich nur wieder falsch gemacht?” – „Wie kann ich mich ändern, damit der andere das nicht mehr tut?”

Solche und ähnliche Fragen rumoren im Kopf der Menschen, die von ihrem Partner gedemütigt und/oder geschlagen werden. Und nicht nur das: Auch die Außenwelt fragt im Falle von häuslicher Gewalt oftmals, wie „zickig” sich das das Opfer wohl verhalten hat, bevor der Täter schrie, quälte oder zuschlug. Denn: „Bei einer Beziehung sind doch immer zwei Menschen beteiligt.” Und: „Niemand demütigt oder schlägt doch einfach nur so.” Oder: „Wahrscheinlich hat sie ihn mit ihren Erwartungen mal wieder auf die Palme gebracht.” Oder auch: „Sie war ja schon immer etwas schwierig.”

So oder ähnlich können die Gedanken und teilweise auch die offenen Äußerungen der Bekannten, Freunde und Angehörigen laufen. Es ist ein typisches Muster in Gewalt- und Missbrauchsbeziehungen, dass die Verantwortung auf die Opfer übertragen wird. Das kann so weit gehen, dass die Opfer am Ende der Meinung sind, dass SIE eigentlich die Täter sind, dass sie den anderen so sehr gequält haben, dass er gar nicht anders konnte, als sie so zu behandeln oder zu schlagen.

Wie hast Du es geschafft, diese Partnerschaft zu beenden? Was war der ausschlaggebende Wendepunkt? 

Heute muss ich sagen: Ich weiss nicht, ob ich es geschafft hätte zu gehen, wenn unser Kind nicht gewesen wäre, das ich vor all dem beschützen wollte – und die Zivilcourage einer Frau im Kindergarten unseres Sohnes. Unser Sohn hat die Gewalt nie bildlich miterlebt, aber diese Energie zwischen uns Eltern hat er gespürt und gespiegelt. Er trat gegen Türen, schrie und ich konnte ihn irgendwann nicht mehr beruhigen.

Da habe ich zum ersten Mal den Wunsch verspürt, unser Kind und mich in Sicherheit zu bringen. Aber mein Partner liess uns nicht gehen. Eingesperrt und kein Kontakt zu Aussenwelt – wie sollte ich unter diesen Umständen fliehen, wo sollte ich hin, allein mit einem kleinen Kind? Ich hatte niemanden, und zu diesem Zeitpunkt wusste ich nichts von der Möglichkeit ins Frauenhaus zu gehen oder traute mich gar die Polizei zu rufen.

Letztendlich war es die Zivilcourage der Kindergärtnerin unseres Sohnes, die reagierte, als ich mit den Verletzungen eines Faustschlages ins Gesicht den Kindergarten betrat. Sie setzte uns ins Auto fuhr uns ins Frauenhaus. Mit nichts weiter, als das was ich dabei hatten, fuhr ich mit meinem Kind ins Ungewisse, mit tausend Gedanken im Kopf: Wie geht es jetzt weiter, werden wir Schutz finden oder muss ich wieder zurück? Angst, Scham, eine innere Leere und die Frage meines Kindes „Mama wo fahren wir jetzt hin“ haben diesen Weg begleitet. Heute bin ich dieser Frau unendlich dankbar für ihre Hilfe. Sie ist eine der Heldinnen meines Lebens.

Wie hast Du das Erlebte aufgearbeitet?

Ich habe zehn Jahre gebraucht, um mein Leben wieder auf einen „normalen“ Weg zu lenken. Ich machte eine Therapie, die ich aber wieder abbrach. Ich wollte mehr, als mich von einer Woche zur anderen zu schleppen, um mich wieder mit Lebensenergie aufzufüllen zu können. An diesem Punkt in meinem Leben begegnete ich meiner heute besten Freundin. Mit ihr habe ich gelernt zu verstehen, wie wichtig es ist, zu verzeihen – mir selbst ebenso, wie den Menschen, die mir das angetan haben.

Ein Leben lang Hass und Wut in sich zu tragen, löst das Geschehene nicht auf, es entzog mir vielmehr für lange Zeit die Energie, wieder aufzustehen, vorwärts zu gehen und zu verstehen, dass mich keine Schuld daran trifft, dass ich seelisch und körperlich misshandelt wurde. Diese Reihe von tiefen Erkenntnissen war sehr wichtig für mich und hat dazu geführt, dass ich mir selbst sagte: Ich möchte nicht mehr weinen, nicht mehr traurig und wütend sein. Ich möchte etwas tun für Frauen, denen das widerfährt, was mir widerfahren ist. Ich möchte etwas weitergeben, etwas bewirken, etwas verändern in die richtige Richtung.

Ich will ein Mensch sein, der aufsteht und gegen häusliche Gewalt an Frauen und Kindern kämpft. Jemand der versteht. Jemand der den stimmlosen eine Stimme gibt. Jemand der Hoffnung schafft. All das ist mein Motor geworden. Ich kann die Welt nicht ändern, doch ich kann Menschen dazu zu bewegen, ihren Blick auf die Welt zu ändern und Gewalt an Frauen als das zu sehen, was es ist: eine Menschenrechtsverletzung, die wir nicht länger hinnehmen dürfen.

Was rätst Du anderen Betroffenen, um diese schmerzhaften Erfahrungen zu verarbeiten?

Der Weg, den Betroffene einschlagen, um mit dem Missbrauch umzugehen und ihn zu bewältigen, kann sehr unterschiedlich sein. Die Entscheidung sollte vor allem von ihren eigenen Gefühlen, Wünschen und persönlichen Möglichkeiten abhängig sein.

Eine erste Entlastung und Unterstützung für viele Betroffene ist es, mit einer Vertrauensperson (z.B. Freund*in) über den Missbrauch zu sprechen. Manche tun dies relativ bald nach Beendigung der Missbrauchshandlungen, andere erst nach Jahren. Jeder Mensch geht mit Gewalterfahrungen anders um. Aber eins ist mir klar geworden: wie groß die Kraft des gesprochenen Wortes ist. Über das Geschehene zu sprechen ist heilsam und generiert Energie. Es gibt viel Möglichkeiten: Frauenberatungsstellen, Traumatherapeuten, vielen Betroffenen hilft auch der Kontakt zu Menschen, die ähnliche Erfahrungen machen mussten, z.B. in einer Selbsthilfegruppe. Wichtig ist zu lernen: Du bist nicht allein. So auch die Überschrift auf den Hilfekarten, die ich in Zusammenarbeit mit One Billion Rising München und Terre des Femmes entwickelt habe. Hier sind viele wichtige Anlaufstellen kompakt zusammengefasst auf einer Karte, die in jeden Geldbeutel passt.

Meine Botschaft: Vertraut euch an, da ist nichts für das ihr euch schämen müsst. Der einzige Mensch, der sich schämen muss und zur Verantwortung gezogen werden sollte, ist der Mensch, der euch das antut oder angetan hat. Keiner hat das Recht euch seelisch oder körperlich zu verletzen!

Wie stehst Du heute zu Deiner Familie? Speziell zu Deinem Vater, dem Täter, und Deiner Mutter, die Dir nicht geholfen hat? Kann man in solch einem Fall das Wort verzeihen in den Mund nehmen?

Diese Menschen werden immer Teil meines Lebens sein. Mein Expartner wird immer der Vater unseres gemeinsamen Sohnes sein, nicht mehr und nicht weniger. Er hat heute keinen Platz mehr in meinem Leben – ich habe all das Geschehene losgelassen, hinter mir gelassen und somit auch ihn. Verzeihen kann ich ihm nicht, denn das was er getan hat war unrecht. Aber ich kann mir vergeben und lernen mich nicht mehr schuldig zu fühlen, mich nicht mehr als „Opfer“ zu fühlen und aufrecht durchs Leben zu gehen.

Meine Eltern haben mir das Leben geschenkt und ich bin Ihnen heute dankbar dafür. Sie hatten beide ihre Geschichte, die sie zu den Menschen gemacht haben, die sie waren. Hätten sie sich anders verhalten sollen? – Natürlich hätten sie das. Aber wer war für sie da, wer hat ihnen geholfen, wer hat Ihnen gesagt, dass ihr Handeln falsch ist? Niemand.

Dies ist heute Teil meiner Arbeit, dass wir Gewalt keinen Nährboden geben dürfen, dass wir sensibilisieren müssen, hinzuschauen. Dass wir Zivilcourage fördern und in Form von Aufklärung und Gewaltprävention ansetzen müssen bei Eltern, Lehrern, Erziehern und dem Wertvollsten in unserer Gesellschaft: unseren Kindern. Dennoch möchte ich das Geschehene in keinster Weise entschuldigen. Verzeihen? – Lange Zeit war mir mein Leben nicht soviel wert, als das ich mich selbst als wertvoll betrachtet hätte. Aber ich bin heute selbst Mutter von zwei wunderbaren Kindern und mit diesem Geschenk in meinem Leben habe ich gelernt zu verstehen und zu vergeben.

Romy Stangl Interview häusliche Gewalt Heyday
Foto: Peter Müller
Romy Stangl Interview häusliche Gewalt Heyday
Foto: Manfred Johan
Romy Stangl Interview häusliche Gewalt Heyday
Foto: Tom Ludwig

„Meine Botschaft: Vertraut euch an, da ist nichts für was ihr euch schämen müsst. Der einzige Mensch, der sich schämen muss und zur Verantwortung gezogen werden sollte, ist der Mensch, der euch das antut oder angetan hat.”

Romy Stangl

Heute bist Du seit zehn Jahren glücklich verheiratet, hast zwei Kinder, bist Aktivistin und arbeitest nebenbei als Model. Wie empfindest Du diese zweite Lebenshälfte, die von Liebe geprägt ist?  

Für mich war meine zweite Lebenshälfte wie eine Neugeburt. Ich habe Menschen, die mich auf meinem Weg begleiten, ich habe Menschen, die für ein bestimmte Zeit mit mir gegangen sind. Für all das bin ich dankbar, denn das Leben hat mir gezeigt, dass jeder Mensch in meinem Leben seine Bestimmung hat, ob als Freund oder „Lehrer“. Das Leben hat mir mit dieser wunderbaren neuen Familie eine Chance gegeben, Liebe zu fühlen, Sicherheit zu erfahren, frei sein zu dürfen – um meinen Weg zu gehen der mich erfüllt,  und ein zu Hause zu haben. Wenn ich heute nach Hause komme, nach einem langen Arbeitstag oder einem Spaziergang, so ist das jedes Mal ein Ankommen in meinem Zuhause. Hier darf ich sein.

Du setzt Dich voller Leidenschaft für das Thema Gewalt gegen Frauen ein und begleitest Betroffene auf ihrem Weg. Wie sieht Deine Arbeit im Detail aus? Was sind Deine wichtigsten Projekte?

Das ist zum einen die Beratung von Frauen in Deutschland und Europa, die häusliche Gewalt erfahren haben. Ebenso die Mitentwicklung des Präventionskonzeptes Die Friedensstifter für Schulen und Kindergärten und außerdem meine Rolle als Sprecherin im Rahmen der Initative Signs of Hope zum Themenkanon häusliche Gewalt, sexuelle Gewalt und Gewaltprävention an Schulen. Die Entwicklung eines umfassenden Schutz- und Unterkunftskonzeptes liegt mir besonders am Herzen. Ich möchte eine Institution bzw. ein Haus schaffen, das unter einem Dach vereint, was Frauen und Mädchen benötigen, die aufgrund häuslicher Gewalt Zuflucht und Hilfe suchen, um sich verstanden und beschützt zu fühlen. Sie sollen Hilfe und Unterstützung erhalten, damit sie Kraft und Hoffnung finden und eine neue Perspektive im Leben erhalten.

Anwälte, Psychologen, Traumatherapeuten (für Mütter und ihre Kinder), Streetworker, Kinderbetreuung, Wohnraum, Kreativeworkshops (kreatives Arbeiten ist für Frauen sehr heilsam), Selbstbehauptungskurse (hier lernen sie, sich dem Thema Gewalt und dem Erlebten zu stellen und zu erkennen, dass die gegen sie gerichtete Gewalt ein Unrecht ist), etc. um nur einige wichtige Schwerpunkte zu nennen. Dem soll sich nach einem gewissen Zeitraum ein offenes betreutes WG-Konzept angeschliessen mit dem Ziel, dass die Frauen nicht wieder zum Täter zurückkehren und Stück für Stück aufrecht und gestärkt ins Leben zurückfinden.

Was erlebst Du bei deiner Arbeit? Wo sind die größten Missstände? 

In meiner Arbeit mit Betroffenen ist immer wieder erkennbar, dass sie sich in einer Spirale befinden, aus der sie sich in vielen Fällen selbst nicht befreien können. Oftmals bleibt es nicht bei einer Form von Gewalt, sondern es findet eine Überschneidung von psychischer, sexualisierter und/oder körperlicher Gewalt statt. Was mit Drohungen und Kränkungen beginnt, findet nicht selten eine Fortsetzung in körperlichen Übergriffen, die mit der Zeit immer massiver werden können. Häufig setzt ein ganz eigener verhängnisvoller Mechanismus ein: Bei den Männern wechseln sich Aggression und Reue ab, sie beschönigen das eigene Fehlverhalten und lasten in der Folge den Frauen die Schuld an. Bei den Frauen wiederum entsteht durch das wechselhafte Verhalten der Männer ebenfalls das Gefühl, eine Mitschuld an den Gewaltausbrüchen zu tragen. So kommt es nach und nach zu einer Verschiebung der Verantwortung für die Gewalttaten: weg vom Mann hin zur Frau. Aus dieser vermeintlichen Mitschuld heraus nehmen die Frauen – auch in der Hoffnung auf Besserung – die Entschuldigung stets aufs Neue an.

Immer wieder stattfindende körperliche Übergriffe und regelmäßige darauf folgende „Versöhnungen“ entwickeln jedoch einen ganz eigenen Automatismus und lassen die Gewaltspirale bedrohlich anwachsen. Ohne Hilfe von außen kann sie kaum mehr von der Frau durchbrochen werden.

Ein Missstand aus meiner Sicht: In der psychologischen Nachsorge der Frauen wird oftmals außer Acht gelassen, dass die Kinder mit leiden und ebenso einer traumatherapeutischen Betreuung bedürfen. Erfolgt dies nicht, wachsen in ihnen die neuen Täter und Opfer heran. Dies möchte ich faktisch untermauern.

93% der Opfer von häuslicher Gewalt berichten, dass die in ihrem Haushalt lebenden Kinder indirekt ebenfalls von der Gewalt betroffen sind. In über der Hälfte der Polizeieinsätze befanden sich Kinder am Tatort, von denen die meisten jünger als 12 Jahre alt waren. In vielen der Fällen wurde die Mutter zum Teil schwer verletzt. Kinder leiden extrem darunter, wenn sie Zeugen von Gewalt gegen die eigene Mutter sein müssen, und versuchen häufig, die Mutter zu schützen. Sie werden von Hilflosigkeit, Angst, Entsetzen und Schuldgefühlen geplagt, weil sie nicht helfen können. Sie sind oft sogar der Meinung, sie selbst seien der eigentliche Auslöser für den ausufernden Streit der Eltern. Viele Mütter geben darüber hinaus an, dass auch die Kinder selbst Drohungen und Beschimpfungen durch die Väter/Partner ausgesetzt sind.

Es ist erwiesen, dass sowohl Gewalterfahrungen am eigenen Leib, als auch das Miterleben von Gewalt gegen einen Elternteil erhebliche negative Auswirkungen auf nahezu alle Bereiche der kindlichen Entwicklung haben können. Die Auswirkungen reichen von Lern- und Leistungsstörungen über problematisches Sozialverhalten bis hin zu körperlichen Symptomen wie zum Beispiel starker Infektanfälligkeit, Bettnässen und Durchschlafschwierigkeiten. Überdies wird häufig das Verhalten in künftigen eigenen Partnerschaften negativ geprägt. Deshalb muss hier mehr auch für die Nachsorge der Kinder erfolgen.

Was sollte der Staat für Frauen, die von Gewalt bedroht sind, tun?

  • Rechtsanspruch auf Hilfe und Unterbringung in einem Schutzhaus bei häuslicher Gewalt: Der Staat muss sicherstellen, dass allen Frauen, die Gewalt erleiden, adäquate Hilfe, Unterstützung und der Anspruch auf eine Platz im Frauenhaus zur Verfügung steht – unabhängig von ihrem Wohnort, Gesundheitszustand, der Herkunft oder dem Aufenthaltstitel
  • Verfassungsrechtlich ist die Finanzierung eines wirksamen Hilfesystems bei Gewalt gegen Frauen als eine staatliche Pflichtaufgabe anzusehen, abgeleitet aus Artikel 2 des Grundgesetzes. Deutschland braucht ein wirksames und nachhaltiges Gesamtkonzept zur Bekämpfung von Gewalt an Frauen, das konkrete Maßnahmen vorsieht und mit einem umfassenden Budget ausgestattet ist
  • Flächendeckender Ausbau der Einrichtungen zur anonymen Spurensicherung bei sexueller Gewalt
  • Änderung des Monitorings zur Erhebung des Bedarfs von Frauenhausplätzen, denn abgewiesene Frauen werden statistisch nicht erfasst und fließen nicht mit in die Bedarfserhebung ein. Nach dem Schlüssel der Istanbul-Konvention, das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, fehlen bundesweit derzeit mehr als 14.600 Schutzplätze für Frauen, die Dunkelziffer dürfte höher sein.
  • Aussetzung des Umgangsrechts für das gewalttätige Elternteil: Bei Verdacht auf Gewalt darf es – nur unter Umständen – einen begleiteten Umgang geben. Im Vorfeld muss eine Gefahrenanalyse stattgefunden haben. Gerade in hochbrisanten Fällen von häuslicher Gewalt kommt es immer wieder bei Übergabesituationen zu einer erneuten Gefährdung der Frau. Das muss verhindert werden, und zugleich muss das Kindeswohl stärker in den Vordergrund rücken. Gewalt zwischen den Eltern ist für Kinder eine schwere psychische Belastung. Einem Kind, das jahrelang mitansehen musste, wie der eigene Vater die Mutter misshandelte, kann nicht zugemutet werden, Kontakt zum Vater pflegen zu müssen. Das Kindeswohl und die Sicherheit der Betroffenen müssen immer Vorrang haben. Zudem darf das Umgangsrechtsverfahren bei Verdacht auf häusliche Gewalt nicht beschleunigt werden.

Was wünschst Du Dir für die Zukunft unserer Gesellschaft?

Ich wünsche mir, dass die Gesellschaft endlich erkennt, dass häusliche Gewalt kein Kavaliersdelikt ist. Und sie ist auch kein Schicksal einzelner Frauen, sondern sie wohnt mitten unter uns. Deshalb können wir ihr nur gemeinsam begegnen. Es gibt Tatsachen, vor denen wir die Augen einfach nicht länger verschließen dürfen. Dazu zählt das Erkennen, dass körperliche, psychische und/oder sexuelle Übergriffe durch den Partner für viele Frauen zum Alltag gehören und oftmals in gleicher Schwere die Kinder mitbetreffen. Oft wollen wir glauben, dass dies seltene Ausnahmen sind. Häusliche Gewalt kommt aber leider sehr häufig vor: Jede vierte Frau erlebt im Laufe ihres Lebens Gewalt durch den eigenen Partner. Und dies sind die erfassten Fälle. Die Dunkelziffer ist weitaus höher, und dies unter anderem deshalb, weil es in unserer Gesellschaft eine Kultur des Wegschauens gibt. Eindeutige Geräusche aus der Nachbarwohnung oder unübersehbare Verletzungen bei Freundinnen, Verwandten oder Kolleginnen sind alarmierende Signale, auf die wir reagieren müssen, statt sie zu verdrängen.

Was viele ebenfalls nicht wissen: Häusliche Gewalt findet sich in allen sozialen Schichten und in allen Altersgruppen. Da sich diese Art von Gewalt zumeist im privaten Bereich abspielt, bleibt sie im Verborgenen und erstreckt sich oft über einen langen Zeitraum. Die Betroffenen fühlen sich schutzlos, hilflos und allein. Mein Wunsch an unsere Gesellschaft lautet: Lasst uns deshalb genau hinsehen und handeln, wenn Hilfe gefragt ist.

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Romy hat ihre Geschichte nach jahrzentelangem Schweigen öffentlich gemacht und ist heute unter anderem für die UN Women, One Billion Rising und Terre des Femmes als Aktivistin tätig

Romy Stangl Interview häusliche Gewalt Heyday
Romy Stangl Interview häusliche Gewalt Heyday


Romy Stangl Interview häusliche Gewalt Heyday

Romy Stangl Interview häusliche Gewalt Heyday

Allgegenwärtig: Romy Stangl lässt keine Gelegenheit aus, um sich für Frauen und Kinder, die häusliche Gewalt erfahren haben, stark zu machen – ob als Rednerin und Aktivistin, als persönliche Begleiterin mit offenen Ohren und helfenden Händen, als Mahnerin und Aufklärerin im Justizwesen, der Politik und auf vielen Media-Kanälen, oder im Kreise Gleichgesinnter bei diversen Frauen-Organisationen.


Romy Stangl Interview häusliche Gewalt Heyday

Romy Stangl Interview häusliche Gewalt Heyday

Romy Stangl Interview häusliche Gewalt Heyday


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Häusliche Gewalt, ob in körperlicher oder sexueller Form, findet in allen sozialen Schichten statt. Jede vierte Frau ist mindestens einmal in ihrem Leben davon betroffen. Was können wir als Gesellschaft, und was kann jede/r Einzelne tun, um zu helfen?

Es muss klar sein, dass eine Frau nicht gezwungen werden kann Hilfe anzunehmen. Es dauert durchschnittlich ca. sieben Jahre, bis eine Frau sich aus einer gewalttätigen Beziehung löst. Da spielen viele Faktoren eine Rolle – ob es die Familie nicht akzeptabel findet („So schlimm wird es schon nicht sein – er ist doch so nett …“), kulturelle Unterschiede, finanzielle Abhängigkeit, Probleme mit dem Aufenthaltsstatus.

Was kann jede/r Einzelne tun?

  • Hinschauen: Augen auf, Ohren auf! Nicht ignorieren! Jetzt ist mehr denn je die Nachbarschaft gefragt
  • Deeskalieren: Nur, wenn die eigene Sicherheit nicht gefährdet ist – unterbreche Konfliktsituationen mit einem harmlosen Anliegen. Wenn die Nachbarn schreien, klingele an der Haustür und borgen Dir Mehl oder Zucker. Das kann hilfreich sein, um sich einen kurzen Überblick zu verschaffen, um dann die Polizei zu rufen
  • Kontaktieren: Nehmt Kontakt zu Betroffenen auf (Achtung: NICHT in Anwesenheit des Täters!) und bietet ihnen an, zuzuhören, Hilfe zu vermitteln, ein Telefon zu benutzen
  • Alarmieren: Wenn es richtig knallt hinter der Wand, dann zögert nicht und ruft die Polizei unter 110 – der Anruf kann ein Leben retten

So kannst Du mithelfen beim Kampf gegen häusliche Gewalt: Drucke Zettel mit der Rufnummer des bundesweiten Hilfetelefons 08000 116 016 aus, hänge Sie sie im Hausflur auf oder werfe sie in alle Briefkästen des Hauses. Auf der Seite von One Billion Rising befinden sich HIER die von Romy entwickelten Hilfekarten mit ersten wichtigen Anlaufstellen für Betroffene

Lieber einmal zu viel die Polizei anrufen als nichts zu machen – die Frauen sollten sich nicht allein fühlen. Im Falle einer Trennung gilt der Anruf bei der Polizei als Nachweis für häusliche Gewalt. Leider wird diese selten von den Frauen selbst dokumentiert – daraus entstehen später ungeahnte Probleme.

Romy Stangl
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Sie ist Mutter von zwei Kindern, Model, Moderatorin, Vortragsrednerin und vor allem eine nimmermüde Aktivistin für die Rechte und das Empowerment von Frauen: Romy Stangl (45) kämpft mit allen Mitteln und auf vielen Social-Media-Kanälen gegen häusliche Gewalt. Sie ist als Aktivistin bei Terre Des Femmes und Vorstandsfrau von One Billion Rising tätig, und engagiert sich bei UN Women Deutschland für die Rechte von Frauen weltweit. Überdies begleitet sie eherenamtlich Frauen, die von häuslicher Gewalt betroffen sind, auf ihrem Weg aus dieser Situation, und gibt Frauen auf Youtube und Facebook eine Stimme.

Sieh dir die Interview-Reihe der Aktivistin auf Youtube an, klinke Dich ein bei der Live-Show Romy‘s Mondaytalk und folge Romy auf Facebook und Instagram!

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