„Ich treffe so viele freigeistige Frauen über 70, die ihre Sexualität ausleben – das ist inspirierend“

Arianne Clément

„Es ist nie zu spät dafür, die beste Version deiner selbst zu sein“, so der Subtext in den Arbeiten der preisgekrönten Künstlerin Arianne Clément (43). Ihre Fotografien zeigen die Schönheit des Alterns und rücken vergessene Geschichten ins rechte Licht. Was die Fotografin während der Arbeit mit alten Menschen über ihren eigenen Alterungsprozess gelernt hat, verrät sie uns im Interview

HEYDAY: Liebe Arianne, was war dein erster Berufswunsch?

Arianne Clément: Ich wollte Malerin werden. Als Kind besuchte ich eine Rudolf-Steiner-Schule in Montreal mit einem großen Kanon künstlerischer Fächer, die mein Interesse weckten. Etwas später, im High-School-Alter, begann ich abends private Kunststunden zu nehmen. Außerdem studierte die große Schwester eines Freundes Bildende Kunst – sie war einfach die Coolste, hatte blaue Haare und Piercings. Sie war definitiv ein Vorbild für mich, dem ich nacheifern wollte.

HEYDAY-Interview: Fotokunst von Arianne Clément

HEYDAY-Interview: Fotokunst von Arianne Clément
Es ist, was es ist: Die authentischen Portraits von Arianne Clément sind das Antonym zu den allgegenwärtigen Filter-Fotos in den Sozialen Medien – sie zeigen lebensfrohe Menschen, die weit davon entfernt sind, sich im Alter zu verstecken

HEYDAY-Interview: Fotokunst von Arianne Clément

Wie ging es mit deiner Karriere weiter?

Ich habe in Montreal den Bachelor in Bildende Kunst erworben. Danach bekam ich mehr oder weniger zufällig einen Job als Journalistin in Nunavut – das liegt im Norden der kanadischen Arktis und ist ein Territorium, das für die dort lebenden Inuit mit besonderen Rechten ausgestattet ist. Meine Zeit in Nunavut hat mir die Augen geöffnet: Es ist erschreckend, was für eine Marginalisierung die Einheimischen erleben und wie viele soziale Konflikte damit verbunden sind. Für die Zeitung konnte ich darüber berichten und da ich auch alle Fotos für meine Artikel selber machen musste, bin ich darüber in den Fotojournalismus gerutscht. Das habe ich dann später auch als Master in London studiert.

Deine Fotografien verbinden Kunst mit Dokumentation. Wie hast du deinen eigenen Stil entwickelt?

Ich komme ja aus der Kunst und mein Studium beinhaltete neben Malen und Zeichnen auch die Fotografie. Zudem war ich sehr am Film interessiert und hatte einen klasse Lehrer für Dokumentationsfilm. Bei ihm habe ich drei Kurse belegt, die eine wichtige Inspiration auf dem Weg zu meinem Stil wurden. Meine Liebe zur Dokumentation konnte ich dann in meinem ersten Job in Nunavut weiter entwickeln, den Feinschliff bekam sie durch das Masterstudium.

Inzwischen fotografierst du hauptsächlich alte Menschen. Deine Serien tragen Namen wie „Die Kunst des Alterns“ oder „100 Jahre – das Alter der Schönheit“. Was reizt dich an diesen Themen?

Schon immer haben mich besonders Geschichten über vergessene Menschen und über Eigenbrötler interessiert. Irgendwann fiel mir auf, wie sehr alte Menschen in meinem Land aus der Öffentlichkeit verschwinden. Das motivierte mich dazu, sie zu fotografieren und in den Fokus meiner Arbeit zu rücken. Die erste Serie kam bereits so gut an, dass ich einfach weitermachte. Außerdem liebe ich es, Zeit mit alten Leuten zu verbringen, ihren Geschichten zu lauschen und mich mit ihnen auszutauschen.

HEYDAY-Interview: Fotokunst von Arianne Clément
Lebensfreude kennt kein Alter und Lachen ist gesund – auch mit über 100!

Mir fiel auf, wie sehr alte Menschen in meinem Land aus der Öffentlichkeit verschwinden. Das motivierte mich dazu, sie in den Fokus meiner Arbeit zu rücken

HEYDAY-Interview: Fotokunst von Arianne Clément
Selbstakzeptanz und Selbstliebe sorgen dafür, dass man auch im Alter die beste Version seiner selbst sein kann
HEYDAY-Interview: Fotokunst von Arianne Clément
HEYDAY-Interview: Fotokunst von Arianne Clément
Auf der Höhe der Zeit bleiben, Liebe und Gemeinsamkeit pflegen, positiv denken – und einfach tun, was man will: Ariannes Protagonist:innen, wissen, wie man das Beste aus dem Leben herausholt

Ist es an der Zeit für einen gesellschaftlichen Wandel, wenn es darum geht, wie wir ältere Frauen betrachten?

Oh mein Gott, ja! Vor allem für meine Geschichten über Sexualität und Sinnlichkeit von Frauen über 70 treffe ich so viele freigeistige und emanzipierte Frauen, die ihre Sexualität mit so viel Lust und Integrität ausleben! Das ist sehr erfrischend und inspirierend. Aber mir ist natürlich bewusst, dass das leider nicht der Normalfall ist. Vermutlich stellen sich die Wenigsten gerne das Sexleben ihrer Großmütter vor. Dabei sollten wir uns aber alle eine Scheibe davon abschneiden.

HEYDAY-Interview: Fotokunst von Arianne Clément
HEYDAY-Interview: Fotokunst von Arianne Clément

Ich treffe so viele freigeistige und emanzipierte Frauen über 70, die ihre Sexualität mit viel Lust und Integrität ausleben – das ist sehr erfrischend und inspirierend!

Oft wirkt es, als wäre Schönheit für die Jungen reserviert. Welche gesellschaftlichen Reaktionen auf deine Arbeit mit alten Menschen hast du erhalten?

Meistens sind die Reaktionen sehr gut. Der Wunsch, in den Medien eine größere Diversität zu sehen, wächst. Inzwischen gibt es viele Konsument:innen, die Frauen und Männer in jeder Größe, in jedem Alter, mit jeder Hautfarbe und mit jeder sexuellen Orientierung sehen wollen. Ich freue mich sehr, dass die Sozialen Medien das widerspiegeln. Denn genau dieses öffentliche Auftreten braucht es, um Stereotypen zu verändern. Dazu trage ich mit meiner Arbeit bei.

Wo und wie findest du deine Models?

Das kommt darauf an. Manchmal schalte ich ganz klassisch Anzeigen in der Zeitung, poste einen Aufruf auf den sozialen Medien oder spreche auch einfach mal Menschen auf der Straße an. Bei der Suche nach Models für das Projekt The art of queer aging hatte ich die Hilfe einer Organisation.

Was hast du während der Arbeit mit deinen betagten Models gelernt?

Dass das Leben nicht endet, nur weil wir altern. Auch mit 80 oder 90, ja sogar mit 100 kannst du dich noch neu erfinden, Sachen lernen und an Kursen teilnehmen. Du kannst dich in der Gesellschaft einbringen oder dich verlieben und unglaublich guten Sex haben. Du kannst in jedem Altern glücklich sein und dich mit dir wohlfühlen. Du kannst stets die beste Version deiner selbst sein!

Dein aktuelles Projekt The art of queer aging beschäftigt sich mit alten Menschen aus der LGBTQA+ Community. Wie siehst du in diesem Zusammenhang deine Rolle als Fotografin?

Die Arbeit dieser Serie war sehr kollaborativ. Ich habe mir große Mühe gegeben, zu verstehen und zu respektieren, wie die Models dargestellt werden wollten. In der Produktion war meine Rolle als Fotografin also eher zweitrangig – da standen die Models ganz klar im Vordergrund. Ich sehe es allerdings als meine Aufgabe an, mich nun für die entsprechende Öffentlichkeitsarbeit einzusetzen, denn diese Geschichten sind so wichtig. Ich wünsche mir, dass die Geschichten der Models gehört werden und dadurch eine größere Akzeptanz von queerem Leben geschaffen wird. Mit dieser Arbeit setze ich mich ein für mehr Verständnis, mehr Gerechtigkeit und mehr Freiheit für die LGBTQA+ Community.

HEYDAY-Interview: Fotokunst von Arianne Clément
Mit Stolz den eigenen Stil zeigen – wer sich im Alter nicht versteckt, hat mehr vom Leben…
HEYDAY-Interview: Fotokunst von Arianne Clément

HEYDAY-Interview: Fotokunst von Arianne Clément
Die eigenen Bedürfnisse offen ausleben und den Körper nicht nur akzeptieren, sondern lieben – das ist Selfcare und zugleich wichtige Verhaltensweise, um Diversität in der Gesellschaft sichtbar zu machen

HEYDAY-Interview: Fotokunst von Arianne Clément

„Meine Gefühle hinsichtlich meines eigenen Alterungsprozesses haben sich durch die Arbeit mit alten Menschen erheblich verändert. Ich konnte Frieden damit schließen und freue mich nun wirklich auf jeden einzelnen Schritt dieser Lebensreise“

HEYDAY-Interview: Fotokunst von Arianne Clément
Fotografin Arianne ist generell gegen Zensur, doch die freie Darstellung weiblicher Nippel in der Kunst, im Alltag und in den Sozialen Medien ist aktuell immer noch umkämpft…

Ein Bild aus dieser Serie hast du auf Instagram gepostet und es wurde gelöscht, weil es den Nippel eines deiner Models zeigte. Männliche Nippel werden von Instagram nicht zensiert. Was denkst du darüber?

Meine Meinung zur Nacktheit auf den sozialen Medien und zu #freethenipple ist tatsächlich sehr moderat. Natürlich empfinde ich es als ungerecht, dass weibliche Nippel versteckt werden müssen und männliche Nippel überall zu sehen sind. Außerdem bin ich generell gegen Zensur in der Kunst. Auf der anderen Seite werden die Körper von Frauen so objektifiziert, dass nicht gerade optimistisch bin, dass die Befreiung der Nippel auch die Befreiung der Frau bedeutet.

Liebe Arianne, ich habe noch eine letzte Frage: Hat sich dein Blick auf deinen eigenen Alterungsprozess durch deine Arbeit verändert?

Oh ja! Meine Gefühle hinsichtlich meines eigenen Alterungsprozesses haben sich im Laufe meiner Karriere erheblich verändert. Ich konnte viel mehr Frieden damit schließen. Immer wieder treffe ich so viele inspirierende Menschen – von überall aus der Welt, sodass ich mich jetzt einfach auf alles freue, was da kommt. Ich möchte alle Erfahrungen mitnehmen und freue mich wirklich auf jeden einzelnen Schritt dieser Lebensreise.

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Über Arianne Clément

Arianne Clément (43) wuchs in Montreal auf und studierte dort Bildende Kunst, im Anschluss arbeitete sie in der kanadischen Arktis als Journalistin. Nach ihrem Masterabschluss in Fotojournalismus an der University of Arts London beteiligte sich die Künstlerin an diversen humanitären Projekten rund um den Globus. Sie hofft, dass ihre Arbeiten die Gesellschaft für Themen marginalisierter Gruppen sensibilisieren kann. Inzwischen lebt Arianne in Quebec und hat sich auf das Portraitieren von alten Menschen spezialisiert. Ihre Fotografien feiern das Leben und werden in etablierten Zeitungen und Magazinen auf der ganzen Welt gedruckt. Die Fotobände von Arianne kann man HIER über Etsy bestellen.

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