Britt Kanja (74) – Grande Dame des Berliner Nachtlebens, Muse, Instagram-Stil-Ikone, Tänzerin und vor allem eine echte Lebenskünstlerin. Im HEYDAY-Interview sprechen wir über ihre Grundsätze und darüber, wie eine bessere Welt von morgen aussehen könnte. Außerdem erzählt uns Britt, weshalb echtes Selbstvertrauen für sie die wahre Freiheit bedeutet…
HEYDAY: Liebe Britt, wie wurdest du die, die du heute bist?
Britt Kanja: Ich hatte das Glück, in meiner Kindheit sehr behütet und gleichzeitig frei aufzuwachsen. Mit drei Jahren hatte ich schon meinen kleinen Roller mit aufblasbaren Rädern und habe damit meine eigene Welt und das Miteinander im Leben erkunden dürfen. Ich bin aus einer Zeit, in der die Kinder nicht so beglückt wurden – wir haben draußen einfach irgendwo gespielt, das hat immer alles wunderbar geklappt. Ich wurde sehr, sehr geliebt, zumal als Einzelkind. Ich musste nicht essen, was ich nicht wollte, ich wurde nie zu irgendetwas gezwungen und habe auch keine Haue bekommen, wenn ich was angestellt hatte. Mir wurden dann Ursache und Wirkungen meines Handelns – auf eine für mich als Kind verständliche Weise – liebevoll erläutert. Meine Eltern förderten und schätzten meine inneren Talente. Darüber sollten einige Eltern in der heutigen Zeit mal nachdenken.
Was war dein erster Berufswunsch, an den du dich erinnern kannst?
Ich wollte entweder Archäologin oder Architektin werden, wie mein Vater. Aber eigentlich am liebsten Archäologin. Als Kind habe ich häufig kleine Wohnzimmer im Buddelkasten geschaufelt und schon früh von Ausgrabungen gehört – das fand ich dann ganz spannend, so in alten Zeiten zu kramen und Geschichten aus dem Altertum hervorzuzaubern.
Bist du ein geduldiger Mensch?
Ja, ich glaube, dass ich Gleichmut besitze. Ich bin eigentlich ganz gelassen. Das Einzige, was ich nicht mag, ist kurzzeitiger Zeitdruck – das führt bei mir zur Unruhe. Aber ansonsten habe ich überhaupt keine Probleme mit der Geduld. Ich lasse alles so geschehen, wie es geschieht und trage dann im richtigen Moment meinen Teil dazu bei. Ich könnte unabhängig von Raum und Zeit Sand durch meine Hände fließen lassen, und dabei meinem Herzen und den feinstofflichen Sinnen lauschen …
Fashion is her passion: Mit Schmuck von Hong Bock und außerge-wöhnlichen Vintage-Kleidern zeigt sich Britt Kanja am liebsten!
„Das Miteinander ist für mich der eigentliche Grund des Seins“
Warst du ein nachdenkliches Kind?
Ich war vor allem ein Wildfang! Aber ich hatte schon im Kindesalter einen erweiterten Horizont, da ich schnell Zusammenhänge erfassen konnte. Ich machte mir schon sehr früh Gedanken, wie eine zukünftige Gesellschaftsform aussehen könnte, in der jeder sich frei entfalten kann und in der man auch die Schwächsten mitnimmt. Auch darüber, wie man notwendige Gesetze neu formuliert, habe ich nachgedacht und welche Gesellschaftsform wir wirklich bräuchten. Das alles geisterte schon früh durch mein Köpfchen, und das ist noch heute so.
Hast du konkrete Vorschläge, wie eine solche Gesellschaftsform aussehen könnte?
Ich werde das irgendwann veröffentlichen. Denn seit über 20 Jahren zeichne ich meine Gedanken dazu auf. Ich habe manchmal Wochen, in denen ich mir nur über die Zukunft der Menschheit Gedanken mache und darüber, wie man unseren Planeten retten kann. Ganz akut besteht eine Notwendigkeit für Gemeinschaften, in denen Hirn sowie Herz gemeinsam zusammenarbeiten und einander fördern. Dabei empfiehlt es sich, die derzeitigen Ausgangsbedingungen ganz genau ins Auge zu fassen, damit sich der Blick aufs Wesentliche konzentrieren kann – wie zum Beispiel darauf, welche ökologischen und sozialen Umwandlungen notwendig sind. Die endlosen Expansionen führen bald nur noch zum Zerfall – diese Art der gängigen Wirtschaftsweise nimmt uns genau genommen unsere eigene menschenwürdige Zukunft.
An welche Art von Gemeinschaften denkst du dabei?
Das Miteinander ist für mich der eigentliche Grund des Seins. Um diesbezüglich neue Formen zu entwickeln wäre es wünschenswert all die Schöngeister, die Zukunftsarchitekt:innen, Macher:innen, Künstler:innen, Netzwerker:innen und die Produzent:innen an einen Tisch zu bekommen. Einfach alle, die ihr Herz und ihren Geist am rechten Fleck haben. Gemeinsam könnten wir ganz neue Formen des Zusammenlebens andenken, und auch neue Formen der Politik. Eine Zielsetzung könnte sein, dass es nicht mehr die internationalen Großkonzerne etc. sind, die unsere Gesetze größtenteils mitbestimmen. Das ist ein zum Himmel schreiendes Unrecht für sämtliche Nationen.
„Ich habe manchmal Wochen, in denen ich mir nur über die Zukunft der Menschheit Gedanken mache und darüber, wie man unseren Planeten retten kann“
Was würdest du der Politik gerne mit auf den Weg geben?
Ich würde gerne die FDP davon überzeugen, dass das bessere Leben aus einem gemeinschaftlichen Miteinander besteht. Für diese Partei ist „Sozialromantik“ ja ein abwertendes Schimpfwort. Der FDP geht es immer nur ums Privatisieren. Und ich würde die FDP gerne fragen, ob ihr Credo vom Markt, der alles regelt, wirklich eine ideale Ausgangsbasis für eine wünschenswerte Gesellschaftsform in sich birgt. Jede Partei hat ja auch ihr Päckchen zu tragen, und bringt eigene Unzulänglichkeiten mit. Wichtig ist, dass endlich wieder eine gemeinsame Bewegung in die Regierung kommt, die dem, Allgemeinwohl dient. In der Bewegung befindet sich die Grundlage der Beständigkeit und alles fängt ja mit Bewegungen an – egal ob es sich um eine geistige Bewegung handelt, oder um eine Handlung. Ich wünsche mir, dass Wohlergehen für die Allgemeinheit und für unseren Planeten anfängt, sich gesellschaftspolitisch zu materialisieren.
„Eine Zielsetzung könnte sein, dass es nicht mehr die internationalen Großkonzerne etc. sind, die unsere Gesetze größtenteils mitbestimmen. Das ist ein zum Himmel schreiendes Unrecht für sämtliche Nationen“
Als Tänzerin hast du ja auch einen sehr bewegten Beruf erlernt…
Das stimmt. Bewegung ist mein Ding. Mit fünf hatte ich schon Tanzstunden. Die Lehrerin war eine sehr bekannte, alte Russin, die nur Kinderballett unterrichtete. Aber wenn man etwas nicht richtig gemacht hat, dann kam sie mit einem Bambusstab – und das tat ganz schön weh! Deshalb bin ich auch irgendwann nicht mehr hingegangen, habe aber Zuhause immer weitergetanzt.
Wie kam es dann zu deiner Tanzausbildung?
Ich durfte mich schon in jungen Jahren in der Welt umsehen. Meine Mutter war ihrer Zeit sehr voraus und sah ein, dass sie früh die Weichen stellen musste, um das Wilde in mir zu bändigen. 1964, als ich 14 war, nahm sie mich zur Seite und sagte mir: „Britt, ich gebe dir jetzt all deine Freiheiten. Du kannst nach Hause kommen, wann du möchtest. Du bist jetzt für dich selbst verantwortlich, und du musst deine eigenen Grenzen selber finden.“
Na, das war eine Nummer! Hätte mir meine Mutter irgendetwas verboten, hätte ich genau das gemacht – und das wusste sie. Aber da sie mir alle Freiheit ließ, wurde ich angeregt zu reflektieren, und zu überlegen, was ich eigentlich will. Für einen Freund fühlte ich mich zu jung. Aber tanzen gehen wollte ich. Das war in jener Zeit, als West-Berlin gerade der Nabel der Gay-Welt war – und so bin ich mit Gays durch die Clubs gezogen und wurde von einer Gruppe wundervoller, äußerst kreativer Gays quasi adoptiert. Ich befand mich gerade in einer ziemlich expressiven Phase und wurde zu ihrer kleinen Prinzessin. Dort in den Clubs hat mich dann Marianne Kipp entdeckt. Sie war damals die beste Ballett- und Jazztänzerin Hollands, die gerade in Berlin ihr Studio und ihre Company gegründet hatte. Sie schenkte mir sogar die Ausbildung.
Foto: Verena Eidel für den Berliner Tagesspiegel 2017
„Als West-Berlin der Nabel der Gay-Welt war, wurde ich von einer wunderbaren Gruppe äußerst kreativer Gays adoptiert. Ich befand mich gerade in einer ziemlich expressiven Phase und wurde zu ihrer kleinen Prinzessin“
Das hört sich an wie im Film...
Erst habe ich das Tanzen nur zum Spaß gemacht, weil ich zu der Zeit eigentlich Kunstgeschichte studieren wollte. Mein Abi und die Tanzausbildung waren parallel fertig und ich war sicher, dass ich danach studieren wollte. Aber dann hatte ich gemeinsam mit meinem Partner die erste öffentliche Aufführung – wir haben nach drei Minuten die Choreographie vergessen und angefangen zu improvisieren. Als die Musik aufhörte, haben wir uns sehr geschämt. Doch dann tobte der ganze Saal vor Begeisterung. Ich glaube, hätten wir die Choreographie nicht vergessen, wäre das nicht passiert.
So rutschte ich aus dem Nichts in eine Tanzkarriere – und ich bin immer noch sehr happy darüber. Wir jetteten durch die Welt und landeten jeden Monat woanders. Überall waren wir sofort im Zentrum des Geschehens. Das Schönste daran waren die Menschen, die ich überall traf, und die sich häufig parallel mit mir entwickelten. Da befruchtete ein Genius den Genius des anderen. Inzwischen bin ich sicher: Es gibt einen konstruktiven Zeitgeist.
Hast du Tipps, wie man diesen Zeitgeist mitgestalten kann?
Es ist das WIR! Die Frage ist: Ist es gut für mich und ist es gut für den anderen? Wenn nur eins zutrifft, führt es in eine Sackgasse. Das Wissen existiert, es erwartet die Bereitschaft des Bewusstseins, es aufzunehmen. Das Wachstum des Bewusstseins ist die wichtigste Grundlage für diesen Schritt. Du kannst immer mitgestalten, die Entscheidung liegt stets bei Dir. Dafür wäre es förderlich, sich in erster Linie selbst gut zu erkennen und durch Reflexion die eigenen Mechanismen und Konditionierungen zu durchschauen. Man könnte damit beginnen, die eigenen Schwächen ohne Angst und Scham zu betrachten, um dann eine Einheit seines Gemüts mit seinem geistigen Bewusstsein zu erlangen. Durch die Bereitschaft, dieses Wissen in unser Bewusstsein aufzunehmen, könnten wir die wichtigste Grundlage hierzu schaffen.
Wie gehst du persönlich mit dem Älterwerden um?
Im Innern bin ich so um die 30 – mit der Offenheit und Freude eines Kindes, gepaart mit der Würde und Weisheit einer erfahrenen Dame. Ich nenne das: „konstruktive Naivität“.
Ich lebe sehr gesund – sowohl geistig als auch körperlich – und bewege mich gern. Ich esse wirklich ausschließlich vegetarisch-biologisch. Viele denken, ich wäre irgendwie optimiert oder operiert – aber nein. Ich bin ganz natürlich. Mit meinen über 70 Jahren wirke ich recht jung und frisch. Das Einzige, was nicht natürlich an mir ist: Ich schminke mich gern, und Make-up optimiert ja auch eine ganze Menge. Ich bin Künstlerin, und da gestalte ich eben auch mich selbst in ein Kunstwerk. Ich habe schon Falten, aber die sieht man kaum. Außerdem gehe ich sehr liebevoll mit mir um. Denn, ja! Man darf sich selbst lieben! Das hat nichts mit Narzissmus zu tun. Mein Körper ist mein Tempel. Mein Geist ist mein Tempel. Und ich bestimme mit meinem Bewusstsein, wie ich durchs Leben gehe.
„Für mich bedeutet Freiheit vor allem Selbstvertrauen. Ich kann mir selbst vertrauen. Ich habe viel erlebt und bin auch in Extremsituationen stets ich selbst geblieben. Diese Erfahrung betrachte ich als ein Geschenk“
Du hast mit Mitte 50 noch mal ein Studium begonnen. Wie ist es dazu gekommen?
Ende der Achtzigerjahre habe ich den legendären Club 90 Grad mitgegründet und dort einmal im Monat eine Themen-Party organisiert. Doch irgendwann nach fast 20 Jahren merkte ich, dass ich jetzt etwas anderes machen muss. Denn Partys zu veranstalten, ist wahnsinnig anstrengend. Ich merkte, wie mir langsam die Power ausging. Wahrscheinlich wäre es noch ein paar Jahre gut gegangen. Aber als Rentnerin wollte ich das dann auch nicht mehr machen. Ich habe mich dann daran erinnert, dass ich ja eigentlich mal Kunst und Kunstgeschichte studieren wollte. Letzten Endes wurde es ein Filmstudium an der Medienakademie.
Foto: privat/Instagram
Feunde fürs Leben: Britt Kanja und ihr ebenso stilbewusster Kompagnon Günther Krabbenhöft auf dem Schlossplatz in Berlin-Charlottenburg
Was bedeutet Freiheit für dich?
Freiheit hängt von vielen Faktoren ab – zum Beispiel in welchem Land lebe ich. Zum Glück ist es in Deutschland immer noch so, dass ich mich selbst entfalten darf. Für mich bedeutet Freiheit aber vor allem Selbstvertrauen. Ich habe viel erlebt und ich weiß: Ich kann ganz reich sein, und ich kann ganz arm sein. Das habe ich beides erfahren und ich habe dennoch nie meinen Charakter verändert. Ich bin in beiden Extremsituationen stets ich selbst geblieben.
Nicht jede Frau ist so selbstbewusst…
Courage ist der erste Schritt zu einem selbstbestimmten, glücklichen Leben. Zweifel hindern dich, du selbst zu sein. Es ist hilfreich, seine Talente zu erkennen und diese zu entfalten und wie einen Rohdiamanten zu schleifen. Das erfordert Beständigkeit und die Freude am Schaffensprozess und am Werden.
Die Ernährung ist auf der physischen Ebene ein wichtiger Faktor, der auch die Psyche beeinflusst. Morgens starte ich mit den fünf Tibetern, einer Yoga-Übung, die durch die gesamte Muskulatur geht. Durch den Tag hinweg begleitet mich eine Meditation, die einer Affirmation gleicht. Diese kann ich in jeder Situation abrufen. Sport integriere ich mein Alltagsleben: Meine Einkäufe erledige ich mit meinem Tretroller oder mit Rollschuhen und auf etlichen Festivitäten schwinge ich mein Tanzbein.
Gibt es etwas, dass dir noch auf dem Herzen liegt?
Zum Abschluss würde ich gerne noch Folgendes sagen: Jetzt, wo eine Bedrohung für die westliche Welt – in der wir leben –
am Horizont steht, wird das Juwel des Friedens besonders kostbar. Könnten wir in der Lage sein, die konventionellen Beschränkungen
der Ignoranz aufzuheben?
„Ich kann ganz reich sein, und ich kann ganz arm sein. Das habe ich beides erfahren und ich habe dennoch nie meinen Charakter verändert“
Über Britt Kanja
Das deutsche It-Girl eroberte in den 60er-Jahren die angesagtesten Clubs in West-Berlin. Dort wurde sie von Marianne Kipp entdeckt und auf die Bühne gebracht. Das Leben der Künstlerin gleicht dem einer Filmfigur: Für die Liebe gab sie das Tanzen auf und zog mit ihrem Mann in die USA. Dort sattelte sie kurzerhand um und studierte Ernährungswissenschaften. Als ihr Mann einer Sekte in die Falle lief, die versuchte, auch Britt einer Gehirnwäsche zu unterziehen, trennte sie sich und kam praktisch mittellos zurpck nach Berlin, wo sie sich eine neue Existenz aufbaute. Sie war Mitbegründerin des Clubs 90 Grad und schmiss dort legendäre Partys. Mit 56 einen schlug sie nochmal einen ganz neuen Weg ein, als sie kurzerhand entschied, an einer Berliner Medienakademie Film zu studieren. Britt Kanja lebt heute noch immer in Berlin und ist so kreativ und umtriebig wie eh und je.
Der Stil-Ikone Britt Kanja folgen bei Instagram rund 75.000 Menschen – HIER geht’s zu ihrem Account, auf dem all ihre wunderbar kreativen Looks und Outfits zu sehen sind…
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