Dr. Dorothea von Ritter-Röhr ist 79, Psychotherapeutin mit eigener Praxis, Aktivistin, Pilotin, Model, Mutter und Oma. Mit HEYDAY sprach sie über ihr Engagement gegen Rechts, die Stellung der Frau in der heutigen Gesellschaft, und die vielen Zumutungen unserer Zeit
Das Fliegen ist ihre Leidenschaft: Dr. Dorothea Ritter-Röhr ließ sich nicht einschüchtern und lebt ihren Traum
HEYDAY: Frau von Ritter-Röhr, ich blättere gerade durch den jüngst im Taschen Verlag erschienenen Fotoband von Peter Lindbergh. Sie hätten vor wenigen Jahren fast einmal mit dem im Spätsommer 2019 verstorbenen Star-Fotografen Aufnahmen gemacht. Wie kam es zu dem Austausch?
Dr. Dorothea Ritter-Röhr: Meine Tochter lebte zeitweilig mit Ihrer Familie in Paris und ich besuchte sie. Auch um die Entwicklung meiner 2014 geborenen Enkel-Zwillinge zu erleben. Bei einem dieser Besuche saß ich am Flugplatz vor dem Gate und wartete, dass der Flug Paris – Frankfurt aufgerufen wurde. Dort sprach mich plötzlich ein sympathischer Mann an, der mich vorher schon beobachtet hatte, und fragte mich, ob ich an einem Fotoshooting interessiert sei. Ich fühlte mich geschmeichelt, war aber auch verwirrt und mit meinen Gedanken ganz woanders. Ich war familiär und beruflich sehr beschäftigt. Mir wurde auch erst später klar, dass es sich um Peter Lindbergh gehandelt hat. Ich lehnte dankend ab. Im Nachhinein habe ich diese Ablehnung natürlich extrem bedauert. In meiner Generation wurden Models eher entwertet. Das Berufsziel war nix erstrebenswertes. Es hat sieben Jahre gedauert, bis ich mich von dieser Moral lösen konnte.
Mit Fotograf Karsten Thormaehlen haben Sie jetzt trotzdem Ihre Modelkarriere gestartet – mit Ende 70. Respekt! Wie war das erste Shooting?
Zufällig fand ich im Internet 100 Jahre Lebensglück – das jüngste Buch von Karsten Thormaehlen und sein Projekt Silver Heros mit aktiven, sportlichen Senioren. Daraufhin habe ich ihn mit meiner Frage nach Fotos kontaktiert. Er beschloss, mich in sein neues Portrait-Projekt Young@Heart aufzunehmen. Bei diesem Projekt geht es um Menschen über 70, die Erfüllung suchen, indem sie sich neu erfinden oder noch etwas bewegen wollen.
Besonders hat ihn allerdings meine Begegnung mit Peter Lindbergh, den er persönlich kannte, fasziniert. Bei dem Shooting war dann die Hair- und Make-up-Artistin Anna Tsoulcha dabei, die zudem eine Coaching-Ausbildung absolviert hat. Die Begegnung mit diesen beiden Menschen war für mich ein ganz besonderes Erlebnis! Herr Thormaehlen ist mit ungeheurer Empathie und Feinfühligkeit begabt. Besonders verstanden fühlte ich mich aber auch von Anna Tsoulcha, die mich durch ihre Interventionen meine Ängste vergessen ließ. Thormaehlen und Tsoulcha sind das Dreamteam! Ich bin alles andere als schüchtern, aber sich einem Fotoshooting auszusetzen und noch Spaß daran zu haben, war bis dahin in meiner Welt nicht vorstellbar. Das Shooting hat mir ungeheuren Spaß gemacht. In unserer Gesellschaft werden alte Frauen diskriminiert und nicht fotografiert! Vielleicht kann ich anderen Frauen durch die Veröffentlichung dieser Bilder Mut machen.
Sind die nächsten Projekte schon in Planung? Die Corona-Situation macht die Arbeit ja nicht gerade leichter.
Ja, ich fühle mich durch Corona beeinträchtigt, aber ich jammere auf hohem Niveau. Ich freue mich jeden Tag darüber, gesund zu sein, kein Covid zu haben, nicht im Krankenhaus zu liegen und als Psychotherapeutin arbeiten zu können. Ich habe neulich den Influencer Tarik Tesfu in einer Talkshow mit Barbara Schöneberger gesehen und wünsche mir ein Shooting mit ihm, etwa um auf den Generationenkonflikt hinzuweisen und diesen Konflikt vielleicht zu relativieren. Die Schlagworte meiner Mission lauten: Frauenstärke, Alter, Zukunft. Wie ich als Silvermodel durchstarte und wie Iris Apfel auf Titelbilder gelangen könnte, habe ich leider noch nicht rausgefunden.
Mit Karsten Thormaehlen haben Sie auf einem Flugplatz geshootet. Die Location dürfte Ihr Vorschlag gewesen sein. Sie selbst sind auch Pilotin, richtig?
Die Location für das Shooting hat tatsächlich Herr Thormaehlen vorgeschlagen, als er von meiner Passion erfahren hat.
„Leider gehöre ich nicht zu den Alten, die sich durch Gelassenheit und Selbstzufriedenheit auszeichnen”
Wie sind Sie zur Fliegerei gekommen?
Ich habe relativ spät mit der Fliegerei begonnen, mit Mitte 40. Ich erinnere mich noch, als ich das Fliegeralphabet lernen musste – alpha, bravo, charly, delta – überholten mich meine damals ca. 10- und 11-jährigen Kinder um ein Vielfaches bei der Lernerei. Ich dachte, ich könnte die Fliegerei beruflich nutzen und mein Leben dadurch erleichtern. Ersteres funktionierte nicht wirklich, dafür wurde mein Leben sehr bereichert. Es war ein Kindertraum – für mich der Inbegrif von Freiheit. Nur fliegen ist schöner, und ich fliege eine rote Piper.
Als promovierte Psychoanalytikerin engagieren Sie sich auch gesellschaftlich sehr stark und waren Mitglied der Enquete-Kommission zur Reform des Abtreibungsrechts…
Vor meiner Berufstätigkeit in eigener Praxis war ich im Zentrum für Psychosomatische Medizin der Universität Gießen tätig. Der Chef war Prof. Dr. Dr. H.-E. Richter, mein großer Mentor und mein Vorbild, drei Nummern zu groß. Richter hat sich zeitlebens als Psychoanalytiker politisch engagiert und auch viel erreicht. Seine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen hat er ebenso zu politischem Engagement ermutigt.
Ich habe damals als Sachverständige in der Psychiatrie-Enquete gesessen und war Mitglied in der Kommission zur Auswertung der Erfahrungen mit dem reformierten Paragraphen 218 StGB. Das Thema Abtreibung hat mich damals als frischgebackene Mutter meines ersten Kindes besonders bewegt. Ich weiß noch, wie ich eines Abends von der Enquete-Kommission nach Hause kam und mein Mann stolz verkündete, dass unser Baby heute zum ersten Mal gelacht habe.
Sie sind Gründerin der Omas gegen Rechts Gießen. Wie schätzen Sie die neue Welle rechter Gesinnung im Gewand des Populismus ein?
Die Verbreitung von antidemokratischen Gedanken und das entsprechende Verhalten finde ich bedrohlich – es erfordert entschlossenen Widerstand! Leider war der Lerneffekt aus der deutschen Geschichte gering. Mein Motto: Wer in der Demokratie schläft, wacht in der Diktatur auf!
Die Nerven liegen derzeit gesellschaftlich an vielen Stellen blank. Wir tänzeln mental irgendwie zwischen Wut, Empathie, Verzweiflung, Kopfschütteln, Gleichgültigkeit und Hoffnung. Worin sehen Sie die besonderen psychischen Herausforderungen dieser Krise?
Als besondere Herausforderung der Coronakrise empfinde ich das ohnmächtige Ausgeliefert sein und die gesellschaftlich geforderte Solidarität. Wir sind auf Action getrimmt und nun heißt es auf einmal „stay at home“. Wir sind zu persönlicher Leistung und Effizienz erzogen – höher, schneller, weiter, immer im Wettbewerb. Jetzt ist plötzlich Solidarität angesagt. Ein totaler Widerspruch, der für viele schwer auszuhalten ist.
Die Chance, die Corona uns bietet, wäre möglicherweise zur Ruhe zu kommen, die Situation zu analysieren und gegebenenfalls zu überdenken, sowohl im persönlichen Bereich als auch gesamtgesellschaftlich. Es wäre denkbar, die Vergabe staatlicher Gelder an Nachhaltigkeit zu koppeln. Es wäre denkbar, die eigene Lebensweise an Nachhaltigkeit zu koppeln. Es ist schön, von Utopia zu träumen und das in Friedenszeiten!
„Wir sind zu persönlicher Leistung und Effizienz erzogen – höher, schneller, weiter. Aber jetzt ist plötzlich Solidarität angesagt”
Das Modeln macht ihr Spaß. Wer weiß, wo die Reise für die Pilotin noch hingeht?
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Über Dorothea
Dr. Dorothea Freifrau von Ritter zu Groenesteyn-Röhr wurde 1942 in Erfurt geboren. Ihr Vater fiel noch vor ihrer Geburt im Zweiten Weltkrieg. Mit der Mutter, einer Gynäkologin, floh sie 1959 aus der DDR und studierte nach dem Abitur Soziologie und Psychologie in Frankfurt am Main, u.a. bei Theodor W. Adorno. Nach der Promotion arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Horst-Eberhard Richter am Zentrum für psychosomatische Medizin der Justus-Liebig-Universität Gießen. 1973 wurde sie zur Dozentin ernannt. Neben ihrer Lehrtätigkeit galten ihre Forschungsinteressen der Didaktik in der medizinischen Soziologie und dem Zusammenhang zwischen Krankheit und Gesellschaft. Frau Ritter-Röhr ist seit 1981 in eigener Praxis niedergelassen. Dazu war sie viele Semester Dozentin am Horst-Eberhard-Richter-Institut in Gießen. Am 19. Oktober 2018 gründete sie mit sechs weiteren Frauen die Initiative Omas gegen Rechts Gießen. Innerhalb des ersten Monats wuchs die Gruppe bereits auf mehr als 100 Mitglieder an.