Hirn im Nebel

Nach Hitzewallungen und Bauchfettringen bemerkt unsere Kolumnistin Bettina Homann (55) nun eine weitere erschreckende Nebenerscheinung des Älterwerdens: Die Einschränkung der Denkfähigkeit – eine echte Herausforderung!

Foto: Mark Konig/ Unsplash

Ich starre in meinen hübschen kleinen Taschenkalender. Am Freitag, den 27. steht dort: „11 Uhr“. Hm. 11 Uhr. Aber was ist da? Das habe ich leider nicht dazu geschrieben und egal, wie intensiv ich darüber nachdenke, es fällt mir nicht ein. Wieder einmal werde ich also wohl irgendwo nicht auftauchen oder einen Anruf nicht machen, den ich zugesagt habe. Das ist mir sehr unangenehm. Ich bin eigentlich ein pünktlicher und zuverlässiger Mensch. Aber obwohl ich inzwischen einen analogen und einen digitalen Kalender führe, entgleitet mir mein Alltag zurzeit öfter. Ich vergesse Dinge, stehe vor verschlossenen Türen, tauche dafür dort, wo ich sein sollte, nicht auf. Manchmal muss ich dreimal hintereinander in den Supermarkt bis ich alles habe, was ich für ein Rezept brauche.

„Rein statistisch habe ich noch etwa 30 Lebensjahre vor mir. Wie sollen die werden, wenn ich in diesem Tempo weiter verblöde?”

Ich versuche mich zu erinnern, was verdammt noch mal am Freitag ist. Es fühlt sich anstrengend an, so als müsste ich gegen einen starken Widerstand ankämpfen. Dass Denken anstrengend sein könnte, hätte ich mir bis vor einiger Zeit nicht vorstellen können. Ich habe es immer geliebt, je komplizierter der Gedanke, desto besser. Ich muss zugeben, ich habe mir sogar einiges auf meinen scharfen Verstand eingebildet. Schule? Nie ein Problem. Schon wieder eine blöde Frage aus der zweiten Reihe? Einvernehmliches Augenrollen mit meinem Freund, dem Mathegenie. Abi? Einserschnitt. Studium ebenso. Bei allem, was ich im Leben getan und erreicht habe, hat mir mein Verstand gute Dienste geleistet.

Wenn mein Sohn mich jetzt im Gespräch entgeistert anschaut, weil meine Äußerung total unlogisch war (wie mir bei erneutem Nachdenken auch auffällt) oder ich einen Artikel kurz bevor ich ihn in die Redaktion schicke nochmal durchlese und feststelle, dass ein halber Absatz fehlt (über den ich nochmal in Ruhe nachdenken wollte, was ich dann vergessen habe) verunsichert mich das. Definitiv mehr als das Knie, das beim Aufstehen aus dem Schneidersitz quietscht. Rein statistisch habe ich noch etwa 30 Lebensjahre vor mir. Wie sollen die werden, wenn ich in diesem Tempo weiter verblöde? Oder wird das auch wieder besser?  Ich forsche nach.

„,Der Verlust von Gehirnzellen mit zunehmendem Alter ist vergleichbar mit dem Auslichten überflüssiger Zweige.’ – Na gut, werde ich also zum Bonsai.”

Das Gehirn einer Frau ist am größten, wenn sie 20 Jahre alt ist. Danach schrumpft es. Dank zunehmender Dichte der Neuronen-Verbindungen, die durch Lernprozesse gebildet werden, wird das jedoch ausgeglichen. „Nutze sie oder verliere sie“ heißt das in Bezug auf die Denkfähigkeit. So viel wie möglich neue Dinge zu lernen, trainiert das Gehirn. Ich versuche es mit Hebräisch, das wollte ich immer schon können. Allerdings vergesse ich fast alle Vokabeln von einem Tag auf den anderen – und leiste meinen Mitschülern gegenüber späte Abbitte für das Augenrollen.

Die Ärztin Christiane Northrup schreibt in ihrem empfehlenswerten Buch Weisheit der Wechseljahre: „Stellen Sie sich ihr Gehirn als Baum vor, der regelmäßig beschnitten werden muss, wenn er seine optimale Form, Größe und Funktion erreichen soll. Der Verlust von Gehirnzellen mit zunehmendem Alter ist vergleichbar mit dem Auslichten überflüssiger Zweige.“ Na gut, werde ich also zum Bonsai. Zumal das Leben mit weniger Gehirnzellen manchmal auch ganz schön sein kann. Es kann jetzt gelegentlich vorkommen, dass ich einfach so dasitze und mich am Spiel der Sonne auf dem Herbstlaub erfreue. Oder, wenn ich nachts wach werde (was leider oft vorkommt, aber das ist wieder eine andere Geschichte) in die Nacht hinein lausche. Ganz ohne zu denken. Diese Art von Gedankenfreiheit, diese tiefe Stille – das kannte ich früher nicht. Kein schlechter Zustand.


Bettina Homann

Die Wissenschaftsjournalistin Bettina Homann (55) gründete den Blog Happster, auf dem sie sich mit Themen rund um das geistige Wohlbefinden beschäftigt und das Glück in all seinen Facetten erkundet.

Foto: Clarissa König

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