Der erfolgreiche deutsche Werbefotograf Karsten Thormaehlen hat für sich eine Nische gefunden: Er spezialisiert sich auf die Portrait-Fotografie von Menschen fernab des üblichen Model-Alters. Die beindruckenden Aufnahmen seiner meist weit über 70-jährigen Protagonist:innen berühren die Betrachter – denn jedes einzelne Portrait erzählt die Geschichte eines langen Lebens
Morrie und Betty Markoff portraitierte Karsten Thormaehlen 2015 für sein Buchprojekt Aging Gracefully bzw. 100 Jahre Lebensglück in Los Angeles. Morrie feierte im Januar 2021 seinen 107. Geburtstag
Fotograf Karsten Thormaehlen
HEYDAY: Karsten, wann hast Du zuletzt alt ausgesehen? Das Sprichwort sagt eine Menge über unser Verhältnis zu Alter und Aussehen aus, oder?
Karsten Thormaehlen: Erst vor kurzem, als ich die 79-jährige promovierte Psychoanalytikerin, Soziologin, tatkräftige Aktivistin, leidenschaftliche Pilotin und passionierte Porsche-Fahrerin Dr. Doro Ritter-Röhr vor der Kamera hatte, und anschliessend meine vom Halten und Absetzen der Kamera entwöhnte, völlig verausgabte, schmerzende Schulter mit Franzbranntwein behandeln musste. Oder als ich bei einem Shooting zu unserem Projekt „Wer rastet, der rostet“ erkennen musste, dass ich physisch keinerlei Chancen gegen einen pensionierten Lehrer weit unterhalb meiner eigenen Gewichtsklasse gehabt hätte, da er den 6. Dan in Karate hält. Ich dachte nur: Was für ein Glück, dass er sich auf meinen Fotos gefiel!
Vor knapp zwei Jahren sorgte die sogenannte FaceApp für weltweites Aufsehen. Damit konnte man sich künstlich altern lassen – und sogar Heidi Klum und Tom Kaulitz haben solche Oma- und Opa-Bilder von sich gepostet. Was denkst Du darüber?
Vor über zehn Jahren machte der sogenannte Age-Suit die Runde. Ein Anzug, der einen durch verschiedene Vorrichtungen schwerer und steifer machte. Mit einer entsprechend teildurchlässigen Brille und Kopfhören sah und hörte man auch schlechter. Kurzum, man fühlte sich tatsächlich älter, und sah nicht nur älter aus. Ich denke dann immer an das frei übersetzte Bonmot von Marcus Tullius Cicero aus Cato Maior de senectute: „Alle wünschen sich, dass sie ein hohes Alter erreichen, doch wenn es erreicht ist, klagen sie es an.“
In Japan entwickelte man dagegen zur gleichen Zeit Exoskellet-Roboter, um alten Menschen übernatürliche Kräfte z.B. bei der Landarbeit zu verleihen. Es ist doch gar nicht so schlecht, der Vergangenheit nicht sentimental nachzuhängen, sondern im Hier und Jetzt mit einem in die unmittelbare Zukunft gerichteten Blick zu leben. Und vor allem irgendwann zu begreifen, dass alle und alles um uns herum altert. Dass jede Lebensphase Vor- und Nachteile hat, mit denen man sich arrangieren kann. Wie auch in der Fotografie ist gerade die Wahrnehmung des eigenen Alters oft eine Sache der Perspektive.
Es ist ja heute schon fast die Regel, dass Bildredakteure versuchen, die Sichtbarkeit des Alters zu kaschieren bzw. zu retuschieren. Welchen Bezug hast Du als Fotograf zum Alter?
Als Fotograf faszinierte mich schon immer die Transformation, die mit dem Altern einhergeht. Am Anfang lief dies in meiner Motivwahl eher unbewusst ab. Ich liebte es, in alten Gebäuden den morbiden Charme der Vergänglichkeit einzufangen. Meine erste Ausstellung hiess Urwelt Island, was eigentlich von der Namenswahl her paradox war, da es sich erdgeschichtlich dort um relativ junge Landschaften handelt, die aber gerne in Hollywood-Blockbustern zu vorzeitlichen Kulissen verklärt werden.
Du giltst mittlerweile als regelrechter Experte, wenn es darum geht, das Alter in Szene zu setzen – was hat Dich dazu bewogen, Dich auf entsprechende Motive zu spezialisieren?
Das war in der Tat nicht beabsichtigt. Ich glaube, dass die Digitalisierung in der Fotografie und das Internet dazu einiges Positives beigetragen haben, da bestimmte Interessengruppen leichter zueinander finden und sich dadurch vorher nie dagewesene Publikations- und Multiplikationseffekte ergeben. So erhalte ich z. B. Anfragen von Angehörigen Hundertjähriger aus den entlegensten Winkeln dieser Welt. Es könnte auch ein gutes Beispiel dafür sein, dass es in künstlerischer Hinsicht durchaus lohnenswert sein kann, seinen Neigungen oder Überzeugungen treu zu bleiben. Im wortwörtlichen Sinne des finaziellen Belohntwerdens, als auch im im übertragenen Sinne von Lebenszufriedenheit. Eine Garantie für Erstgenanntes gibt es nicht, Letzteres bestätigen jedoch die allermeisten in ihren Biografien.
Senioren aus der LGBT-Community haben im Laufe der Jahre eine große Widerstandsfähigkeit gegenüber Schwierigkeiten bewiesen und den Weg für eine bessere und akzeptablere Zukunft für kommende Generationen geebnet. Das Projekt Keine weitere Sekunde – die erste in einer nationalen Reihe von Kulturkampagnen – erzählt die Geschichten von einem Dutzend LGBT-Senioren, und erforscht die Jahre, die sie aufgrund gesellschaftlicher Zwänge verloren haben. Not Another Second erkennt die Opfer und Beiträge dieser Senioren an, feiert ihre Schönheit und Tapferkeit und befähigt sie, ihre Erfahrungen mit jüngeren Generationen zu teilen.
Für Karsten Thormaehlen, der die Protagonist:innen der Kampagne in Szene setzte, war dies „ein sehr wichtiges Projekt eine sehr wichtige Aufgabe, und zudem eine große Ehre, dass ich hierzu meinen Beitrag leisten durfte.”
„Dinge wie Achtsamkeit gegenüber sich selbst und anderen, Respekt, Mitgefühl, Bescheidenheit oder auch Lebensführung im Einklang mit seinen eigenen und den Bedürfnissen anderer – das kann man von 100-Jährigen lernen”
Karsten Thormaehlen
Oben: Für die Ausstellung YOUNG@HEART, die an der Universitätsmedizin Göttingen (UMG) ihre Premiere haben wird (Zeitpunkt der Eröffnung entsprechend der Pandemie-Entwicklung), hat Karsten Thormaehlen unter anderem die 79-jährige Soziologin und Psychoanalytikerin Dr. Dorothea von Ritter-Roehr portraitiert. Hintergrund ist die Neugründung der UMG-Abteilung Geriatrie 2019 unter der Leitung von Prof. Dr. Christine von Arnim. Diese Abteilung ist im Heart & Brain Center Göttingen sowie als aktives Mitglied im Herzzentrum Göttingen verankert.
Rechts unten: Anlässlich des hundertsten Geburtstages der traditionsreichen Bielefelder Hemdenschneiderei Seidensticker castete und fotografierte Karsten in Zusammenarbeit mit der Agentur Belepok sieben 100-Jährige in Berlin und Potsdam.
Styling: Saskia Schmidt, Hair & Make-up: Anna Tsoulcha
Hier geht es zu unserem Artikel zum 100-jährigen Firmenjubiläum von Seidensticker auf HEYDAY
Für das 100. Firmenjubiläum von Seidensticker im Jahr 2019 hast Du 100-jährige Models in schneeweißen Hemden und Blusen portraitiert. Das waren sehr anrührende Bilder. Wie war die Arbeit mit den Protagonisten:innen?
Für mich eigentlich nichts Neues, da ich nun ja schon einige 100-Jährige vor der Kamera hatte, für das Team aber erstaunlich herzlich, entspannt, angenehm und sehr lehrreich!
Was kann man von den 100-Jährigen lernen?
Eine ganze Menge, denke ich. Zum Beispiel über Dinge wie Achtsamkeit gegenüber sich selbst und anderen, Respekt, Mitgefühl, Bescheidenheit oder auch Lebensführung im Einklang mit seinen eigenen und den Bedürfnissen anderer. Ein Mensch, der uns als Zeitzeuge Erlebtes aus einem hundertjährigen Leben erzählen kann, ist stets ein viel unmittelbareres Erlebnis, als wenn wir nur über historische Ereignisse lesen, oder uns Filme über das Dritte Reich, den zweiten Weltkrieg oder die Weltwirtschaftskrise anschauen, um etwas darüber zu erfahren. Aktuell können 100-Jährige uns sogar Tipps bzgl. der Corona-Pandemie geben, da sie die Spanische Grippe überlebt haben. Sie wissen wie man unbeschadet, gelassen, zufrieden und glücklich ein hohes Alter erreicht. Vielen ist das selbst gar nicht bewusst, aber es lohnt sich immer, ihnen zuzuhören.
War es nicht auch belastend zu wissen, dass vielleicht nicht alle der über hundert Jahre alten Menschen, die Teil der Kampagne waren, die Veröffentlichung der Fotos erleben würden?
Nein, der Tod ist und bleibt unabwendbarer Bestandteil unserer Existenz. Was zählt, ist alleine die Lebendigkeit und Lebensfreude zum Zeitpunkt der Aufnahme. In diesen Momenten denkt niemand der Anwesenden an den Tod. Nichtsdestotrotz bin ich immer traurig, wenn ich vom Ableben meiner Models höre, da ich sie ja alle ein wenig kennenlernen durfte.
Die Senior-Models tragen in Deinen Bildaufnahmen oft weiß, was den Bildern eine gewisse Grundstimmung zu geben scheint. Wie gehst Du mit Farbe und Licht bei Foto-Shootings um?
Für mein erstes Buch war dies tatsächlich Teil des Konzepts. Vor einem farbneutralen Hintergrund wollte ich so etwas wie Zeitlosigkeit symbolisieren, sowie den seriellen Charakter verstärken. In der zweiten Serie Mit hundert hat man noch Träume waren dann auch beige und graue Outfits erlaubt. Bei der Serie für Aging Gracefully bzw. 100 Jahre Lebensglück gab ich dann durch die Kleidung weitere Hinweise auf den kulturellen und ethnischen Background. Die Lichtsetzung war dahingegen in allen Serien mit Hundertjährigen immer gleich: natürliches, seitliches Tageslicht.
Welche Projekte stehen 2021 an? Die Corona-Krise legt wahrscheinlich weiter jede Arbeit mit älteren Menschen als Teil der Hochrisikogruppen auf Eis?
Dadurch, dass ein Teil meiner Klientel nun weitestgehend durchgeimpft ist, enspannt sich die Lage gerade wieder etwas. Zur Zeit laufen die Fotoshootings zu Wer rastet, der rostet. Mehr dazu findet man hier in dem Beitrag „Aktiv im Alter“ des ZDF. Dazu kommt die Vorbereitungen zu meiner neuen Ausstellung zur Altersthematik in der Universitätsmedizin Göttingen – und ich freue mich auf die Zusammenarbeit für ein Künstleretikett mit einer Prinzessin für das älteste Weingut Deutschlands.
Zu guter Letzt: Welcher Fotograf dürfte Dich ablichten, wenn Du 100 bist, und wie sollte das Setting dabei sein?
Seit einiger Zeit, natürlich beeinflusst von meinen Begegnungen mit den ältesten der Alten auf der ganzen Welt, arbeite ich daran meinen persönlichen Lebenswandel, meine Ernährung und mein Bewegungspensum zu optimieren – aber leider noch nicht konsequent genug. Wenn es aber denn sein sollte, würde ich mich gerne vor der Kamera von Pieter Hugo, Craig McDean oder Annie Leibovitz in Pose setzen. Vorausgesetzt sie besteigen mit über 100 noch ein Flugzeug nach Kyoto, Verbania oder Edinburgh.
Über Karsten Thormaehlen
Karsten Thormaehlen wurde 1965 geboren und ist heute ein international gefragter Fotograf. Er hat zahlreiche Preise erhalten, darunter u.a. den Px3 Prix de la Photographie 2020 und den von der Agentur Magnum vergebenen Portrait of Humanity-Award. Laut Lürzer’s Archiv gehört Thormaehlen zu den 200 wichtigsten Werbefotografen der vergangenen Jahre. Er ist Mitglied des Berufsverbandes Freie Fotografen und Filmgestalter (BFF) und seit 2015 berufenes Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Photographie (DGPh). Er lebt und arbeitet in Wiesbaden und Frankfurt am Main.
Mehr Informationen zu seinen zahlreichen Projekten gibt es HIER auf Karstens Homepage.
Hinter den Kulissen: Die damals 81-jährige Sibylle Birnstiel fotografierte Karsten für sein Projekt ANMUT (2014) in der Residenz Schloss Stetten